Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Hauptquartier des berüchtigten und gehassten norwegischen Nazis, Henry Rinnan, zum Zuhause einer jüdischen Familie, in die der Autor Simon Stranger später eingeheiratet hat.
Dieses Haus, genannt „Das Bandenkloster“ wurde zur Vorlage seines neuen Romans, in Norwegen vielbeachteten Romans "Leksikon om lys og mørke" ("Das Lexikon über Licht und Dunkelheit", erscheint 2019 in deutscher Übersetzung im Eichborn Verlag)
„Mein erster Gedanke war: Das ist der Stoff, aus dem man Romane macht“, erzählt Simon Stranger. „Ich glaube, meine Schwiegermutter dachte das gleiche. Sie hat auf eine Art und Weise über dieses Haus gesprochen, die mich neugierug machen musste.“
Die Geschichte der Schwiegermutter von Stranger beginnt bei Hirsch Komissar, dem Urgroßvater von Strangers Frau Rikke; ein in Russland geborener Jude, der zwischen den beiden Weltkriegen einen Konfektionsladen in Trondheim – der größten Stadt Mittelnorwegens – betrieb. 1942 wird er von der Gestapo verhört, inhaftiert und in ein Gefangenenlager verschleppt. Noch im selben Jahr wird Hirsch von den deutschen Besetzern im Falstad-Wald vor den Toren der Stadt hingerichtet.
Nach dem Krieg kehrt sein Sohn Gerson Komissar mit seiner Familie von Oslo nach Trondheim zurück, um seiner Mutter Marie im Familiengeschäft unter die Arme zu greifen. Marie hat sich um alles gekümmert und für die Familie eine Villa im feinsten Stadtteil aufgetrieben.
Der meistgehasste Mann Norwegens
Doch diese Villa ist nicht nur irgendein Haus. Es handelt sich um die Villa im Jonsveien 46 – im Volksmund „Bandeklosteret“, das Bandenkloster, genannt. Hier befand sich das Hauptquartier von Henry Rinnan, dem meistgehassten Mann Norwegens während des Zweiten Weltkrieges. Hier lebten er und seine Jüngerschaft im Überfluss, von hier aus infiltrierten sie norwegische Widerstandsorganisationen, hier wurden norwegische Widerstandskämpfer auf brutalste Weise verhört, in den Keller geworfen, gefoltert, ermordet und ihre Leichen zerstückelt. In ausgerechnet dieses Haus zog die jüdische Familie Komissar nach dem Krieg.
Dieser Ort bildet nun die Kulisse von Strangers neuem Roman, in dem er auch versucht, das Leben des jungen Henry Rinnan in den Jahren zwischen den Kriegen zu rekonstruieren – um ein Verständnis dafür zu schaffen, warum alles so kam wie es kam. Der Roman wird durchzogen von lexikalischen Einträgen zu zentralen Schlagwörtern, die den Text bereichern, Nebenhandlungen eröffnen und seine Hauptgedanken vertiefen. Daher der Titel Leksikon om lys og mørke ("Das Lexikon über Licht und Dunkelheit").
„Die Struktur eines Romans ist mir sehr wichtig. Zuerst war die Struktur auf dem Bauplan des Hauses aufgebaut, aber das funktionierte nicht so gut. Als ich dann auf die Idee kam, alphabetisch vorzugehen, bekam der Text eine ganz andere Dynamik. Der ethische Ernst kam nun deutlicher aus dem Subtext hervor“, erklärt Stranger.
Man geht davon aus, dass die Rinnanbande hinter tausend Festnahmen von Widerstandskämpfern steckte, mehrere hundert wurden gefoltert, mehr als achtzig ermordet. Henry Rinnan selbst wurde 1947 hingerichtet. So auch neun seiner Anhänger. Viele von ihnen wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.
Kein Ende in Sicht
„Es kommt mir so vor, als würde der historisch gewachsene Judenhass niemals abschwellen. Das ist so merkwürdig. Es geht darum, wie Worte Wirklichkeiten, und damit auch Weltbilder erzeugen, die in Krieg und Gewalt enden.
Simon Stranger meint, sein Roman greife Themen auf, die leider von anhaltender Aktualität sind:
„Das Leksikon om lys og mørke hat dreierlei Bedeutung für mich: Es ist ein Familienprojekt, ein historischer und ein gesellschaftlicher Roman. Es ist mir wichtig, dass die LeserInnen wissen, dass es sich hierbei nicht nur um eine Geschichte der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg handelt. Es geht um Ausgrenzung und Extremismus – um junge Männer, die gerne eine Bedeutung hätten.
Viele internationale Verlage waren an den Rechten an Strangers Roman interessiert. Den Zuschlag für Amerika erhielt der renommierte Verlag Knopf, in Deutschland wird das Buch 2019 beim Eichborn Verlag erscheinen.
Stolpersteine
Vor einem Hof in Trondheim liegt ein sogenannter Stolperstein, ein Pflasterstein, gefertigt aus goldenem Metall, mit der simplen Inschrift „Hier lebte Hirsch“. Fast 70.000 solcher Stolpersteine findet man in vielen europäischen Städten – zum Gedenken an Menschen, die der Judenverfolgung zum Opfer fielen.
Nach der jüdischen Tradition stirbt man zwei Mal. Das erste Mal physisch. Das zweite Mal, wenn der Name Verstorbener zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später.
Mit seinem Roman hat Simon Stranger einen lange währenden Stolperstein geschaffen.
Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe.
Für mehr Information
Oslo Literary Agency: Simon Strang
Books from Norway: Leksikon om lys og mørke