Der skandinavische Augenblick

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Geschrieben von Tore Rem, UiO

In den 1880er-Jahren hatte Ibsen in Deutschland seinen Durchbruch, sowohl auf der Bühne als auch mit seinen gedruckten Werken, die praktisch zu Massenliteratur wurden.

Henrik Ibsen, Portrait aus den 1890ern.

Ibsen, Ibsen überall

Da geht nichts mehr drüber!

Auf dem ganzen Erdenball

Herrscht das Ibsen Fieber!

So lautet die erste Strophe eines Gedichtes, das in „Der Zeitgeist“, einem Beiheft des Berliner Tageblatts vom 1. Juni 1891, erschien. Der Titel lautete „Das Lied vom Ibsen“. Die Luft sei voll von „Ibsen-Ruhm-Bacillen“, heißt es weiter. Sein Name war überall zu hören. Man konnte ihm nicht entkommen.

Das Lied über Ibsen klingt immer noch nach. Als zweithäufigst gespielter Dramatiker nach Shakespeare, ist er auch der lebendigste norwegische Klassiker, und spielt eine zentrale Rolle im Literaturkanon des Landes.

In den 1880er-Jahren hatte Ibsen in Deutschland seinen Durchbruch, sowohl auf der Bühne als auch mit seinen gedruckten Werken, die praktisch zu Massenliteratur wurden. 1917 hatte der Billigverlag Reclam bereits 4,5 Millionen Ibsen-Bücher verkauft, mehr als von irgendeinem anderen ausländischen Autor.

Was war es, das den Nerv des Publikums traf? Vor allem das Gefühl, dass Ibsen Themen ansprach, die für Deutschland und die Deutschen relevant waren, und dass der norwegische Autor und seine internationalen Leser und Zuschauer im Großen und Ganzen derselben Moderne angehörten und sich mit denselben Fragen konfrontiert sahen: Freiheit und Verantwortung, das Verhältnis zwischen Alt und Neu, Geschlechterrollen und Zusammenleben, Religion und Moral, Individuum und Gemeinschaft. Aber natürlich ging es auch um literarische Form, Erneuerung und Qualität. Und vielleicht auch um die Faszination des Fremden und Andersartigen.

Mit Ibsen als Triebfeder zog die skandinavische Literatur in die Welt hinaus. Mein Kollege Narve Fulsås und ich haben dieses historische Phänomen „Der skandinavische Augenblick in der Weltliteratur“ genannt (Ibsen, Scandinavia and the Making of a World Drama, 2018). Aus einer bis dato kaum wahrgenommenen Literatur entstand eine Reihe von Texten, die die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregten.

Mit und nach Ibsen erblühte die Literatur in einem Land, das ein neues literarisches Selbstwertgefühl entwickelt hatte. Die Wege der norwegischen Literatur führten häufig zuerst nach Deutschland und von dort in den Rest der Welt. So entstand das besondere Verhältnis zwischen Norwegen und Deutschland, so wurde die Literatur beider Länder miteinander verwoben.

Und in diesem Zusammenhang verdient die Bedeutung der Übersetzung eine besondere Erwähnung. Der deutsche Literaturwissenschaftler Fritz Paul und andere haben darauf hingewiesen, dass Ibsen ein einzigartiges Beispiel für einen Autor war, der Werke in einer Sprache schrieb, die nur paar Millionen Menschen lesen konnten und die dennoch zu Weltliteratur wurden. Um diesen Erfolg zu erreichen, war er auf Übersetzungen angewiesen.

Das gilt natürlich für die gesamte Literatur aus diesem kleinen Sprachraum, auch heute noch. Sie ist angewiesen auf Übersetzungen. Wenn sie Leser in aller Welt erreichen soll, braucht sie die Mitarbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer.

2019 bringt einen enormen kollektiven Schub für die norwegischen Klassiker in deutscher Sprache. Die Liste der Neuübersetzungen und –ausgaben ist beeindruckend lang und vielfältig. Neben Ibsen findet sich darauf einer seiner großen Zeitgenossen, Alexander Lange Kielland, als Repräsentant eines engagierten, messerscharfen Realismus. Eine Weile hatte Kielland auch in Deutschland einen Namen. Als Thomas Mann seinen Roman Buddenbrooks schrieb, ließ er sich unter anderem von den Generationsromanen des Norwegers über das Kaufmannsmilieu eines kleinen norwegischen Küstenortes inspirieren.

In der nachfolgenden Generation steht Knut Hamsun an erster Stelle. In diesem Jahr erscheinen Neuübersetzungen seines großen Liebesromans Victoria und des Neusiedlerromans Segen der Erde, für den er 1920 den Nobelpreis erhielt. Außerdem sein letztes Buch, das Erinnerungswerk Auf überwachsenen Pfaden, das uns die politischen Fehlgriffe dieses Autors ins Gedächtnis ruft. Deutsche Leser erhalten auch Zugang zu einer brandneuen, kreativen Version von Hamsuns modernistischem Debutroman Hunger, von dem sich Martin Ernstens zu einer Graphic Novel inspirieren ließ.

Knut Hamsuns "Auf überwachsenen Pfaden", "Segen der Erde" und "Victoria" erschienen 2019 in Übersetzung von Alken Bruns im Ullstein Verlag.

Weiterhin haben deutsche Leser nun auch die Möglichkeit, zwei interessante Bohème-Schriftstellerinnen der nächsten Generation kennenzulernen, Ragnhild Jølsen und Dagny Juel. Um beide rankten sich zu Lebzeiten und auch darüber hinaus diverse Mythen. Beide starben in jungen Jahren auf dramatische Weise. In ihren Werken thematisieren sie Weiblichkeit, Sexualität und Geschlechterrollen, und zwar auf radikale und überraschend moderne Weise.

Die bekannteste schreibende Zeitgenossin Hamsuns war Sigrid Undset, die ebenfalls den Nobelpreis erhielt. Undset wurde vor allem durch ihre großartigen Mittelalterrome bekannt, doch sie begann mit gewagten, neorealistischen Gegenwartsromanen. In den beiden Neuausgaben werden beide Stilarten repräsentiert.

Unter denen, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts literarisch aktiv waren, sind die hervorragende Schriftstellerin Cora Sandel, mit ihren Schilderungen weiblicher Erfahrungen und Rebellion, der psychologische Realist Aksel Sandemose und der poetischere und provokative Realist Agnar Mykle, dessen Roman Das Lied vom roten Rubin wegen seiner angeblichen Obszönität, zum Gegenstand eines der letzten Literatur-Gerichtsverfahren in Norwegen wurde (1957-58), und nicht zuletzt Tarjei Vesaas, der vielleicht führendste Modernist dieser Jahrzehnte. Als Autor war Vesaas in der Natur verankert, mit einem poetischen, knappen Stil, der gewisse Assoziationen mit dem zeitgenössischen Autor Jon Fosse weckt. Wie Vesaas verfasst auch Jon Fosse seine Werke auf Nynorsk (die zweite Schriftsprache des Landes).

Agnar Mykles "Liebe ist eine einsame Sache" (übersetzt von Lothar Schneider) und "Das Lied vom roten Rubin" (übersetzt von Ullrich Sonnenberg) erschienen 2019 im Ullstein Verlag.

Alf Prøysen gehörte zu einem anderen, eher volkstümlich ausgerichteten literarischen Kreis. Er war der beliebteste norwegische Musiker und Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. In diesem Jahr wird er mit seinem international erfolgreichen Kinderbuch Die fabelhafte Frau Löffelchen in deutscher Übersetzung repräsentiert.

Auf der Liste neuer norwegischer Klassikerausgaben finden sich auch einige Beispiele aus der Zeit vor Ibsen, wie Per Christen Asbjørnsens und Jørgen Moes norwegische Volksmärchen und der große national-romantische Dichter Henrik Wergeland.

"Das Eisschloss" erschien 2019 in Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Guggolz Verlag. Henrik Wergelands "Im wilden Paradies" erschien 2019 in Übersetzung von Heinrich Detering" im Wallstein Verlag.

Von Kinderliteratur bis Modernismus, von Bohème-Literatur bis zum Mittelalterroman, von gewagter Erotik bis zum Volksmärchen. Bis auf die Tatsache, dass alle diese Literatur als norwegisch bezeichnet werden kann, sie kaum zusammengefasst werden. Natürlich gibt es kulturelle und historische Gründe, die Klassiker aus dem Norden zu lesen. Aber darüber hinaus werden wir als Leser bei der Begegnung mit ausländischen Literaturklassikern immer das Bekannte gegen das Unbekannte abwägen müssen. Dadurch entsteht ein intensives, bereicherndes Leseerlebnis. In der norwegischen Klassikertradition gibt es eine Literatur, die den deutschen Lesern lange Zeit sehr nah war, und ihnen gleichzeitig fremd und vielleicht sogar exotisch erschien.

Vielleicht könnte man sagen, dass die positive Resonanz der norwegischen Klassikerliteratur in Deutschland, auf zwei paradoxe, scheinbar widerstreitende Tendenzen zurückzuführen ist: die Idee einer besonderen, fortschrittlichen Modernität, und das besondere, fast ursprüngliche Verhältnis zur Natur.

„Das Lied vom Ibsen“ endet mit den Versen „Bis Gott Ibsen unterliegt/Einer –neuen Mode!“ Es stellte sich jedoch heraus, dass Ibsen mehr als eine Modeerscheinung war. Er wurde ein Klassiker, ein Autor, der immer noch lebendig ist, trotz ständig wechselnder Moden.

So auch in Deutschland. Die engagierten Neuübersetzungen von zahlreichen norwegischen Klassikern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts lassen hoffen, dass deutsche Leser auch zu anderen Teilen des reichen literarischen Erbes dieser kleinen Nation am nördlichen Rand Europas einen besseren Zugang erhalten.

Ab und zu kann die sogenannte Peripherie nämlich das sogenannte Zentrum überraschen. Manchmal bietet sie Ressourcen, die dem Zentrum fehlen. So war es auf jeden Fall in der Zeit „des skandinavischen Augenblicks“. Durch Norwegens Status als Ehrengast in Frankfurt und die großartigen kulturellen Aktivitäten, die dadurch ausgelöst wurden, können deutsche Leser vielleicht einen neuen „norwegischen Augenblick“ erleben – einen, der hoffentlich bis über das Jahr 2019 hinaus andauern wird. Das liegt sozusagen in der Natur des Klassikers.

Professor Tore Rem, Direktor der UiO: Norden in Oslo

Aus dem Norwegischen von Inge Wehrmann.

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