Norwegens Motto als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse 2019 lautet „Der Traum in uns“. Die Worte stammen aus dem gleichnamigen Gedicht des Dichters Olav H. Hauge (1908-1994).
Im Jahr 2016 wählten die Leser und Zuschauer des norwegischen Senders NRK dieses Gedicht zum bedeutendsten norwegischen Gedicht aller Zeiten. Im Olav H. Hauge Zentrum für Poesie in seinem Heimatort am Hardangerfjord wird das Leben und Werk des großartigen Dichters ausgestellt.
Olav H. Hauge und Der Traum
1982 wurde ein Buch von Olav H. Hauge unter dem nüchternen Titel Dikt i umsetjing (dt.: Dichtung in der Übersetzung) veröffentlicht. In dem Buch wurde deutlich, dass dieser norwegische Dichter, der zwischen 1946 und 1980 sieben Gedichtbände veröffentlicht hatte, einer der aktivsten Übersetzer fremdsprachiger Dichtkunst ins Norwegische war. Eine Ausgabe des Buchs aus dem Jahr 1992 enthält die Werke von 27 Dichtern, die Hauge aus dem Englischen, Deutschen und Französischen übersetzt hatte. Und es waren nicht irgendwelche Dichter, die er übersetzt hatte – es waren Vertreter der deutschen Romantik und Moderne wie Hölderlin, Heym, Trakl, Brecht und Celan. Aus dem Englischen hatte Hauge Gedichte von Blake, Yeats, Lawrence und Bly übersetzt und aus dem Französischen Dichter wie Verlaine, Rimbaud, Michaux und Char. Es handelte sich oft um anspruchsvolle und enigmatische Texte.
Es mag seltsam anmuten, dass Hauge, ein ausgebildeter Gärtner, der vom Obstanbau lebte, derart komplizierte Gedichte auf Norwegisch in Worte kleiden konnte. Einen der Gründe hierfür findet man in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch, auf Deutsch unter dem Titel Mein Leben war Traum: Aus den Tagebüchern 1924-1994 erschienen. Darin kann man auf fast 4.000 Seiten seine faszinierende Lebensgeschichte lesen, die sowohl innere als auch äußere Aspekte seines Lebens berücksichtigt. Nach außen war das Leben Hauges durch das Drama seines Nervenzusammenbruchs gekennzeichnet, den er in seinen frühen Zwanzigern erlitten hatte – Hauge verbrachte mehrere Jahre in einer geschlossenen Anstalt. Nach seiner Entlassung kehrte er auf seinen Bauernhof zurück, wurde aber im Verlauf seines Lebens mehrere Male wieder eingewiesen. Die inneren Aspekte der Geschichte zeigen uns, wie Hauge Literatur nutzte, um diese Erfahrungen zu verstehen und zu verarbeiten. Er setzte sich stark mit den Romantikern auseinander, sowohl in der norwegischen als auch in der übrigen europäischen Literatur, und mit deren Dialog mit „der anderen Seite“. Hölderlin war sehr wichtig für Hauge. Für Hölderlin war die innere Welt so bedeutend, dass er den Bezug zur äußeren verlor.
Hauge fühlte sich aber auch von der modernen und surrealistischen Dichtung angesprochen. In seinem bekannten Gedicht „Alltag“ setzt er das gute, ruhige Alltagsleben einem Leben „im Sturm, im Feuer“ gegenüber und fühlt sich zu beiden Aspekten hingezogen. Am Anfang seines Schriftstellerdaseins empfindet er die Kluft zwischen dem Traum und der Wirklichkeit als sehr schmerzvoll und bezeichnet sich als den träumenden Gärtner. Aber schließlich wurde der Traum mit Literatur verwoben. Der Traum und das Gedicht wurden zu Orten, an denen alltägliche Erfahrungen und die Erfahrung des Abgekapseltseins bzw. des Auf-der-anderen-Seite-Seins einander begegnen konnten. Derartige Gegensätze kommen zum Ausdruck beispielsweise in Hauges Gedicht „Und ich war Kummer“: Trauer und das Leben in einer Höhle einerseits, Stolz und Nach-den-Sternen-Greifen andererseits. Vor dem Hintergrund seiner Krankheit und Vision werden für Hauge die innere Empfindung und das Alltägliche sehr wichtig. Als er seinen Weg zurück in den Alltag fand, gab es vielleicht eine solche Verbindung, insofern als der Traum und das Gedicht die Orte waren, an denen diese Gegensätze einander begegnen konnten. „Das ist der Traum” ist ein solcher Ort:
Det er den draumen
Det er den draumen me ber på
at noko vedunderleg skal skje,
at det må skje —
at tidi skal opna seg,
at hjarta skal opna seg,
at dører skal opna seg,
at berget skal opna seg,
at kjeldor skal springa —
at draumen skal opna seg,
at me ei morgonstund skal glida inn
på ein våg me ikkje har visst um.
Das ist der Traum
Das ist der Traum, den wir tragen,
daß etwas Wunderbares geschieht,
geschehen muß –
daß die Zeit sich öffnet,
daß das Herz sich öffnet,
daß Türen sich öffnen,
daß der Berg sich öffnet,
daß Quellen springen –
daß der Traum sich öffnet,
daß wir in einer Morgenstunde gleiten
in eine Bucht, um die wir nicht wußten.
Die deutsche Übersetzung "Das ist der Traum" („Det er den draumen“ von Dropar i austavind, Noregs boklag 1966) stammt von Klaus Anders und wurde dem Werk Olav H. Hauge, Gesammelte Gedichte, Edition Rugerup, Berlin / Hörby, Schweden 2012, entnommen. Beitrag von Jan Inge Sørbø, Autor der Nynorsk litteraturhistorie (Verlag Det Norske Samlaget, 2018)