Wenn das Selbstbild Risse bekommt

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Geschrieben von Atle Nielsen

Vigdis Hjorths neuer Roman, Lærerinnens sang („Das Lied der Lehrerin“, noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen), erzählt davon, was mit einem Menschen passiert, wenn sein Selbstbild Risse bekommt, zerbricht und auf die nackte Existenz zurückgeworfen wird, um von dort aus zu einem neuen Selbstverständnis finden zu müssen.

Vigdis Hjorth, Foto: Agnete Brun

Mit diesen Worten beschreibt die Autorin ihren Roman, in dem es um das Leben der Lehrerin Lotte Bøk geht. Sie unterrichtet an der Osloer Kunsthochschule und bringt sich ins kulturelle Leben ein. Zu ihrer Tochter und dem Enkelsohn hat sie ein gutes Verhältnis. Politisch steht sie links, engagiert sich in leitender Position für gemeinnützige Organisationen und ist dankbar, dass sie ihr Leben weitgehend in einer relativ friedlichen und sicheren Zeit verbringen konnte.

Verunsicherung

Soweit ist alles gut in Vigdis Hjorths neuem Roman. Doch dann geschieht etwas …

Einer ihrer Studenten fragt, ob sie an einem Kunstprojekt teilnehmen wolle. Er möchte Lehrende bei ihrer Arbeit und in ihrem Privatleben filmen. Lotte Bøk willigt ein, weil die Lehrenden der Kunsthochschule ihre Schüler gern unterstützen möchten. Doch schon vor dem Beginn der Filmarbeiten fängt Lotte an, sich von außen zu betrachten. Und als die Aufnahmen beginnen, nimmt ihre plötzliche Unsicherheit bezüglich ihres Selbstbildes zu. Der Kamera ausgesetzt wird sie immer unsicherer, muss schließlich all ihre Kräfte aufbieten muss, um ihr seelisches Gleichgewicht zu wahren und ihr Bild von sich selbst aufrechtzuerhalten – das Bild, das sie vor der Anfrage ihres Studenten von sich hatte.

Als sie den fertigen Film über sich anschaut, ist sie erschüttert. Sie verstummt, weil sie erkennt, dass ihre Sprache verlogen, manieriert und phrasenhaft ist. Wie soll ihr Leben fortan weitergehen – als eine Lehrerin, die ihre Sprache verloren hat?

Sie reist nach Griechenland, wo sie, ohne reden zu müssen, gespendete Kleider für Flüchtlinge sortieren kann, mit der winzigen Hoffnung, ihre Sprache zurückzuerlangen.

„Das klingt nicht besonders fröhlich“, sagt Vigdis Hjorth. „Doch wenn man eine neue Sprache für die Welt suchen muss, schafft dies vielleicht die Möglichkeit, eine neue Perspektive für sich selbst zu finden. Vielleicht hat Lotte Bøk ja eine goldene Chance bekommen...“

„Wirklichkeitsliteratur“

Wie immer, wenn ein neues Buch von Vigdis Hjorth erscheint, wurde auch dieses mit großem Interesse erwartet. Ihr voriger Roman, Bergljots Familie (erschienen in der deutschen Übersetzung von Gabriele Haefs im Ostburg Verlag, norw. Arv og miljø), erschütterte die norwegische Leserschaft und erregte großes Aufsehen. Das Buch wurde zum Leuchtturm der norwegischen „Wirklichkeitsliteratur“, und obwohl es ein Roman mit fiktiven Personen ist, gibt es unter den Lesern kaum Zweifel, dass die Handlung uf den persönlichen Erfahrungen der Autorin beruht. Vigdis Hjorths Schwester, Helga Hjorth, lieferte ein Jahr später eine starke Antwort mit ihrem Roman Fri vilje („Freier Wille“, nicht auf Deutsch erschienen), in dem sie die Familiengeschichte aus ihrer Sicht schildert.

Beide Bücher erzielten in Norwegen gute Verkaufszahlen und Bergljots Familie wird derzeit für die Bühne bearbeitet. Es wird ab November 2018 im Den-Nationale-Scene-Theater in Bergen aufgeführt.

Schlüsselromane

Vigdis Hjorth kann auf eine lange Karriere als Schriftstellerin zurückblicken, die mit ihrem Debüt im Jahre 1983 begann. Sie schrieb für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in unterschiedlichen Genres. Seit Jahren zählt sie zu den besten norwegischen GegenwartsautorInnen. Sie erhielt alle angesehenen literarischen Auszeichnungen Norwegens und wurde zudem für den Nordisk råds litteraturpris (Literaturpreis des nordischen Rates) nominiert. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und fanden eine begeisterte internationale Leserschaft.

Viele von Hjorths Romanen weisen Elemente von Schlüsselromanen auf. So schrieb sie über ihre Liebesbeziehungen, Erlebnisse im Gefängnis und über ihre Erfahrungen bei einem Erbschaftsstreit, bei dem auch eine Missbrauchsgeschichte aus ihrer Kindheit zur Sprache kam. Auf die Frage, wie viel von ihr in dem neuen Roman Lærerinnens sang stecke, anwortet sie hintergründig:

„Das Buch handelt von einer Lehrerin, die in ihrem Unterricht unter anderem die Werke Berthold Brechts durchnimmt und eine kleine Krise durchmacht. Ich habe mit meinen Schülern jede Menge Brecht gelesen …“

Für mehr Information

Cappelen Damm Agency: Vigdis Hjorth

Books from Norway: Lærerinnens sang

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