Ein Buch, um darin zu leben

Nachrichten
Interview
Geschrieben von Thomas Böhm

Im Frühjahr 2019 erschien Johan Harstads Roman "Max, Mischa und die Tet-Offensive" in Übersetzung von Ursel Allenstein im Rowohlt Verlag. Für das Magazin der Berliner Buchhandlung Geistesblüten führte Thomas Böhm ein Interview mit dem Autor.

Johan Harstad im Gespräch mit Thomas Böhm, Foto: Sabine Felber

Über 1000 Seiten umfasst der Roman Max, Mischa und die Tet-Offensive (übersetzt von Ursel Allenstein, Rowohlt Verlag) des norwegischen Autors Johan Harstad.

Erzählt wird die Geschichte des Theaterregisseurs Max. Von seiner Kindheit im norwegischen Stavanger, seiner erzwungenen Übersiedlung nach Amerika bis hin zur großen Liebe seines Lebens. Ein Gespräch über den Willen, das Leben festzuhalten, über die Erfahrung beim Lesen dicker Bücher und Mark Rothko als Inspirationsquelle.

Thomas Böhm: Ich muss gestehen, dass ich nicht wusste, was die „Tet-Offensive“ ist. Als ich dann beim Lesen herausfand, dass es sich um eine wichtige Schlacht des Vietnam-Krieges handelt, habe ich mich ignorant gefühlt. Wie viel Kalkül steckt hinter dieser Anspielung auf ein Ereignis, das historisch nicht so lange zurückliegt und doch wohlmöglich nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein ist?

Johan Harstad: Die Tet-Offensive war ein Ereignis von größter Bedeutung: sie hat nicht nur den Verlauf des Vietnam-Kriegs verändert, sondern auch, wie die Amerikaner über den Krieg dachten. Und wie die Welt über Amerika dachte. Die historischen Fakten lassen sich auch leicht nachschlagen.

Die Verbindung für mich bestand darin, dass – militärisch gesprochen – die Tet-Offensive der Versuch der nord-vietnamesischen Armee war, 200 Dörfer und Städte gleichzeitig anzugreifen. Und Max – literarisch gesprochen – versucht, sehr viele Ereignisse seines Lebens gleichzeitig zu erzählen. Über sich und die Menschen, die ihm Nahe sind, bevor die Erinnerung verblasst.

TB: Die ersten Kapitel des Buches sind überraschend, inspirierend. Wir begegnen Max im Alter von 35 Jahren, auf einer Tournee durch Amerika. Er ist ein erfolgreicher Theaterregisseur, der uns die Inhalte seiner sehr avancierten, sehr zeitgemäßen Theaterstücke erzählt, die Reaktionen seines Publikums. Wir kommen quasi erzählend direkt auf die Bühne des Theaters. Was war die Idee hinter dieser Eröffnung?

JH: Die ersten Kapitel mögen nicht der leichteste Einstieg sein. Die Idee dahinter war, gleich zu Anfang zu zeigen, dass es Passagen im Buch gibt, die Geduld und Hingabe seitens der Lesenden verlangen. Dass es aber auch (hoffentlich) viel Erkenntnisreiches gibt. Die ersten Kapitel sind wie ein Durchgang, durch den es zu krabbeln gilt – über die hohen und niederen Dinge, die Max an den Rande eines Zusammenbruchs gebracht haben. Aber wenn man durch diesen Einstieg hindurch ist, öffnet sich das Buch in seiner ganzen Weite.

Johan Harstad, Foto: Sabine Felber

TB: Und diese Weite ist die Kindheit von Max in Stavanger. Die Beschreibung eines Sommers, voller Sorglosigkeit, mit den besten Freunden. Das liest sich sehr poetisch, obwohl die Jungen eben die Tet-Offensive nachspielen. Wie passt das zusammen: Eine poetische Kindheit in Norwegen und der Vietnamkrieg?

JH: Max wächst – wie ich übrigens auch – in Forus auf. Das ist ein Industrie-Vorort. Der nichts Schönes hat. Aber die Poesie besteht darin, dass alle Kinder ihre Umgebung umwandeln – in das, was sie wünschen. So kann ein kleiner Wald zu einem schrecklichen Dschungel werden.

Später ist Forus der Ort, an den Max zurückwill. Obwohl er in Manhattan lebt – weil Forus eben SEIN Ort ist, dort, wo er sich sicher fühlte. Zuhause.

TB: Eine offensichtliche Frage: Hatten Sie vor einen 1.200 seitigen Roman zu schreiben? Was im Stoff hat nach der Länge verlangt?

JH: Ich habe lange versucht, den Text möglichst kurz zu halten. Ich hatte selbst Angst vor der Länge, davor, den Fokus zu verlieren. Aber dann habe ich mich entschlossen, dem nachzugeben, was Max als Figur verlangte. Ihn all das sagen zu lassen, was ihm wichtig ist.

Meine Lektorin – die zwischendurch zu mir sagte, es sei ihr egal, ob das Buch am Ende sogar 2.000 Seiten lang würde – gab mir einen wichtigen Rat. Sie sagte: Je länger ein Buch wird, desto mehr hat jeder Absatz seine eigene Länge zu rechtfertigen. Und deshalb habe ich jeden Satz wieder und wieder überarbeitet und schließlich über 500 Seiten herausgenommen.

TB: Allgemein gesprochen: Welche Erfahrungen werden durch eine solche Länge, einen solch großen Romanraum möglich? Für Sie als Autor wie für die Lesenden?

JH: Lange Zeit war der Arbeitstitel des Buches „Rothko Days“. Der Maler Mark Rothko hat oft sehr große Leinwände bemalt und wollte, dass sich die Betrachtenden möglichst nah an das Bild stellten, so dass ihre Sinne vollkommen von ihm eingenommen werden. Er sprach davon, dass Kunst ein Ort werden könne, im beinahe physischen Sinn.

Mein Buch versucht das gleiche. Es umgibt uns mit seiner Länge, schafft einen Ort zum Leben – für mich als ich darin schrieb und darin lebte, genauso wie für die Lesenden. Dazu gehört zum Beispiel die befremdliche Erfahrung, 500 Seiten in einem Roman gelesen zu haben und trotzdem eine nochmal so weite Strecke vor sich zu haben. Auch das gehört zur Idee des Buches, das auch davon handelt, wie sich ein Ort finden lässt, der eine Heimat sein kann.

TB: Max begegnet Mischa, die ihn an Shelley Duvall erinnert, die Schauspielerin, die u.a. in Kubricks “The Shining” mitspielt. Wir sehen ein Bild von ihr auf dem Cover, das Sie selbst entworfen haben. Warum dieses Bild?

JH: Kubrik – und einige andere – waren der Meinung, dass Shelley Duvall nicht gutaussehend war. In Robert Altmans Film Brewster McCloud, aus dem das Bild stammt, ist sie meiner Meinung nach (und der von Max) von berückender Schönheit. Es geht also bei diesem Bild auch um die Zeit. Was sie mit den Menschen macht. Die Unmöglichkeit, sie festzuhalten – dabei ist es genau das, was Max versucht: die Vergangenheit wieder gegenwärtig zu machen.

TB: Ganz am Anfang fällt der Satz: „Ich werde über Euch alle erzählen.“ Ein Satz, in dem sich die Lesenden eingeschlossen, aufgehoben fühlen können...

JH: Er wendet sich an dieser Stelle zwar an die Menschen, die ihn in seinem Leben umgeben haben, aber Sie haben recht, Bücher können so scheinen, als würden sie von jemanden handeln, der ist, wie man selbst. Geschrieben von jemanden, der auch so ist. Ich hoffe, einige Leser werden mit meinem Buch diese Erfahrung machen.

Weitere Informationen zum Buch

finden Sie auf der Webseite des Rowohlt Verlags.

Rezensionen zum Buch

Am 26.03. im Deutschlandfunk Kultur

Am 31.03. in der Süddeutschen Zeitung

Am 07.05. auf NDR.de

Veranstaltungen

Am Samstag, den 19. Oktober um 14.30 Uhr ist Johan Harstad zu Gast auf der Hauptbühne in Norwegens Gastlandpavillon auf der Frankfurter Buchmesse zu erleben! Zusammen mit der norwegischen Schriftstellerin Gunnhild Øyehaug und dem amerikanischen Literaturkritiker Johan Freeman wird er sich über den "möglichen Roman" unterhalten.

AutorenBelletristik