Die Königin der Fantasy ist zurück

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Geschrieben von Nora Steenberg, BOK365

„Eines der fantastischsten Dinge bei Fantasy ist, dass sie uns die Möglichkeit gibt, etwas über die Wirklichkeit zu sagen – aber auf eine unwirkliche Art und Weise“, sagt Siri Pettersen.

Nach dem Erfolg der Rabenringe-Reihe gilt Siri Pettersen als die Fantasy-Königin Norwegens. Alle drei erschienenen Bücher wurden für einige der angesehensten Literaturpreise Norwegens nominiert und die Rezensenten lobten besonders, dass Siri Pettersen ein neues norwegisches Fantasy-Genre begründet hat. Ihre Bücher sind inzwischen in viele Sprache übersetzt worden, Ende Januar erschien mit Fäulnis der zweite Band der Rabenringe-Reihe auf Deutsch.

Siri Pettersen ist überzeugt, dass die deutschen Leser beim zweiten Band noch einmal ein ganz anderes Leseerlebnis haben werden als beim ersten Band der Reihe.

„Die drei Bücher spielen in drei verschiedenen Welten, allerdings gibt es Überschneidungen. Fäulnis unterscheidet sich dramatisch von dem ersten Band Odinskind, und das wird klar, sobald man das Buch aufschlägt. Wir bewegen uns von einer wikinger-ähnlichen Gesellschaft in eine fiktive Welt, ins Europa des Jahres 2014.“

Ein unerwarteter Erfolg

Dass die Reihe ein solcher Erfolg wurde, kam für die Autorin unerwartet:

„2013 habe ich mit Odinskind debütiert. Es war ein Brocken von über sechshundert Seiten, man kann also getrost sagen, dass das Buch alle Voraussetzungen erfüllte, nicht beachtet zu werden. Aber so war es nicht. Mein Alltag wurde vollständig auf den Kopf gestellt. Die Leute lasen und empfahlen das Buch, sie redeten darüber in den sozialen Medien, und ich saß wie gelähmt da und fragte mich: Was um alles in der Welt passiert hier? Ich war in der seltenen Situation, alles andere stehen und liegen zu lassen und weiterschreiben zu können“, erzählt Siri Pettersen.

Und das tat sie. In Norwegen sind inzwischen zwei weitere Bücher der Reihe erschienen, und tatsächlich sind sie ebenso erfolgreich wie der erste Band.

„Das Schlimmste ist, dass ich nicht geahnt habe, wie ungewöhnlich so etwas ist, ich erfuhr es erst, als ich die Buchbranche etwas näher kennenlernte. Ich wurde für den Preis der Norwegischen Buchhändler nominiert, bevor ich überhaupt wusste, was das ist. Ich bin ungeheuer dankbar für all die Leidenschaft, die die Menschen mir entgegengebracht haben, und ich schulde meine Karriere all denen, die meine Bücher lieben.“

Siri Pettersen beschreibt ihre Rabenringe-Reihe als eine „High-Fantasy-Serie in einer Welt, in der der Mensch ein Mythos ist“. In den Büchern geht es um Hirka, die in einer Welt aufwächst, in der ihr etwas fehlt, was alle anderen haben. Sie ist nicht nur schwanzlos, ihr mangelt es außerdem an der Fähigkeit, die Kraft der Erde zu erkennen.

„Sie erfährt, dass ihr diese Dinge fehlen, weil sie ein Menschenkind ist. Folglich wird sie gefürchtet, gejagt und verachtet. In drei Büchern und drei Welten“, so Siri Pettersen.

Das richtige Buch zur richtigen Zeit

„Inspiriert haben mich sehr viele Orte. Insbesondere die wilde Natur und das raue Klima Nordnorwegens, wo ich aufgewachsen bin. Das hat ganz eindeutig auf mein Schreiben abgefärbt. Außerdem habe ich mich schon immer für das Mittelalter und die Zeit der Wikinger interessiert, und natürlich für Märchen. Aber am allermeisten haben mich Rollenspiele und Comics beeinflusst. Die Hauptperson Hirka war ursprünglich für ein Rollenspiel gedacht.“

Siri Pettersen meint, dass die norwegische Natur und die norwegische Kultur dem Fantasy-Genre eine Menge zu bieten haben:

„Ich würde fast sagen, dass die norwegische Kultur in vielerlei Hinsicht das eigentliche Fantasy-Genre definiert hat. Die altnordische Mythologie, der Volksglaube und die Geschichte der Wikinger haben Bücher, Filme und Comics auf der ganzen Welt inspiriert. Fantasy-Autoren konnten zu allen Zeiten aus diesem Reichtum schöpfen. Alle, von Tolkien bis Neil Gaiman und den Marvel-Comics.“

Als die Rabenringe-Reihe erschien, war Fantasy bei den norwegischen Lesern keine feste Größe, doch Pettersen betont, dass es selbstverständlich auch vor ihren Büchern norwegische Fantasy gegeben hat:

„In Norwegen wurde schon immer Fantasy geschrieben. Zum Beispiel Die Saga vom Eisvolk von Margit Sandemo. Eindeutig Fantasy. Ein Teil der Erklärung liegt sicher in der norwegischen Lesetradition. Als ich aufwuchs, gab es in den Buchhandlungen kein ›Fantasy‹-Regal. Das hat sich dramatisch verändert. Das Genre ist absolut explodiert, und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Rabenringe den Vorteil hatten, die richtigen Bücher zur richtigen Zeit zu sein.

Sie hatte schon immer den Traum vom Schreiben

„Ich will nichts romantisieren, aber ich habe schon immer gewusst, was ich machen wollte. Tatsächlich kann ich mich nicht entsinnen, je Zweifel gehabt zu haben. Ich wollte kreativ arbeiten, in welcher Form auch immer. Zeichnen, Schreiben, Malen, Design, Illustration, Animation, es spielte keine Rolle. Das Wichtigste war, dass ich Geschichten erzählen wollte, auf die eine oder andere Art.“

Noch bevor sie in die Schule kam, bastelte Siri Pettersen ihre ersten “Bücher“ aus gefaltetem Briefpapier und Stecknadeln als Bindung. Dann wurde das Visuelle wichtiger, sie wurde Designerin und zeichnete später Comic Strips.

„Ich habe immer gewusst, dass es auf Bücher hinauslaufen würde, es war lediglich eine Frage der Zeit“, erzählt sie und fügt hinzu, dass sie beim ersten Buch gleich einen typischen Anfängerfehler machte hat:

„Mir unterlief ein klassischer Schnitzer: Ich fühlte mich wohl. Und das ist eine ganz schlechte Idee, denn dann fühlen sich auch deine Figuren wohl. Ganz am Anfang hatte Hirka eine Familie und ein glückliches Leben, und ich dachte mir nette Orte aus. Aber das war kein Buch, sondern ein Ölgemälde. Und zwar ein langweiliges.“

Es führte dazu, dass Siri Pettersen ihren Beruf aufgab und sich ernsthaft darauf konzentrierte, ihr Buch zu strukturieren und zu beenden:

„Ich schrieb Odinskind vier, fünf Mal um, bevor ich das Gefühl hatte, jetzt passt es. Bevor ich es wagte, das Manuskript zu verschicken. Ich kannte niemanden in der Buchbranche und hatte überhaupt keine Ahnung, welche Verlage es gab. Ich schrieb einfach. Eine Zeit der Unschuld, die man nie wieder zurückbekommen wird.“

Etwas über die Welt sagen

„Gute Geschichten handeln von Menschen und thematisieren oft universelle, zeitlose Probleme. Ob die Geschichte in einer norwegischen Stadt im Jahr 2019 angesiedelt ist oder in einer fiktiven Welt des Mittelalters, spielt eine weniger wichtige Rolle. Eines der fantastischsten Dinge bei Fantasy ist, dass sie uns die Möglichkeit gibt, etwas über die Wirklichkeit zu sagen – aber auf eine unwirkliche Art und Weise“, so Siri Pettersen.

Für sie war es wichtig, die „Herausforderungen der Wirklichkeit“ in der Geschichte aufscheinen zu lassen, aber möglicherweise unterscheidet sie sich von anderen Fantasy-Autoren auch dadurch, dass in ihren Geschichten weder Drachen noch Zauberer auftauchen.

„Es war mir überhaupt nicht wichtig, mich von den klassischen Aspekten der Fantasy abzusetzen, ganz bestimmt nicht. Ich hätte ebenso gut über Drachen und Zauberer schreiben können. Aber ich mag es, über die ›unwirklichen‹ Aspekte auf eine wirklichkeitsnahe Art und Weise zu schreiben. So gibt es zum Beispiel Magie in den Rabenringen, aber das Wort Magie verwende ich nicht. Denn wenn alle es benutzen, dann kann man es doch nicht mehr als ›magisch‹ bezeichnen, oder?“

Eifrige Fans

„Ich freue mich sehr, dass die Bücher nun auch andere Länder erreichen und auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gelesen werden können. Norwegisch und Deutsch haben interessante sprachliche Ähnlichkeiten, die meines Erachtens dazu führen werden, dass deutschsprachige Leser sich in den Rabenringen zu Hause fühlen werden.“

Siri Pettersens erste Lesereise nach Deutschland wird sie zur Leipziger Buchmesse führen und sie freut sich darauf, viele ihrer begeisterten Fans zu treffen:

„Das wird meine erste Reise nach Deutschland als Autorin und ich freue mich wirklich sehr darauf! Auf solchen Reisen erlebe ich immer wieder sehr viele wunderbare Dinge.“

Vermutlich ist Siri Pettersen Norwegens erstes „Opfer“ einer Fantasy- Fan-Gemeinde. Die Rabenringe- Fans spielen die Buchcharaktere als Cosplay-Figuren nach und lassen sich sogar Tätowierungen stechen, die aus dem Rabenringe-Universum stammen.

„Was mich am meisten berührt, sind Leser, die anfangen zu weinen, wenn ich ihre Bücher signiere. Es ist unglaublich, wenn man solche Gefühle auslöst. Und es ist ein einzigartiges Erlebnis, Leute mit Tätowierungen zu sehen oder Jugendliche, die als Cosplayer die Protagonisten darstellen. Die leidenschaftlichen Leser haben dieses Phänomen geschaffen, weitaus mehr als ich.“

Ganz unwirklich

Siri Pettersen ist sehr präsent in den sozialen Medien und hält es für wichtig, mit ihren Lesern verbunden zu sein:

„Ich bin mir sehr bewusst, dass ich meinen Erfolg den Lesern zu verdanken habe, und die Hingabe, die sie zeigen, lässt mich extrem glücklich und dankbar sein. Daher wende ich auch viel Zeit auf, um Anfragen zu beantworten, zu liken und zu teilen. Ich schulde es meinen Lesern, und hoffe, dass ich nie zu beschäftigt bin, um zu zeigen, dass ich durchaus registriere, was sie tun, und wie sehr ich es mag.“ Aber noch immer ist sie verblüfft über das Interesse, das man ihr entgegenbringt:

„Es ist absolut unwirklich. Normalerweise sage ich, dass es sich noch immer so anfühlt, als würde es gar nicht mir gelten. Ich bin die Sekretärin der Dame, die die Rabenringe geschrieben hat, und antworte nur in ihrem Namen.“

Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.

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