Die Angst entlarvt zu werden

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Geschrieben von Atle Nielsen, BOK365

Dag Solstad, auf dessen Publikationsliste 18 Romane stehen, gehört zu den bedeutendsten norwegischen Autoren. Sein beliebtestes Werk, "T. Singer", wurde von Ina Kronenberger übersetzt und erschien nun endlich auch auf Deutsch.

Dag Solstad, Foto: Tom Sandberg

Das Buch über den einsamen und anonymen Mann T. Singer gehört zu den Werken, die Dag Solstad selbst am meisten schätzt. Vielleicht weil es eines der Typischsten ist und weil Solstad sich bei seinem Erscheinen im Jahre 1999 auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens befand.

In dem letzten von Solstads sogenannten „Neunziger-Jahre-Romanen“, begegnen wir einigen typischen Solstad-Figuren und -Situationen. Wie diverse andere seiner Protagonisten, reist die Hauptfigur mit dem Zug in eine kleine norwegische Stadt, um dort eine neue Arbeitsstelle anzutreten. In T. Singer kommt Singer in die ehemalige Industriestadt Notodden, um dort als Bibliothekar zu arbeiten.

„Eine spezielle Form von Schamgefühl“

Aber Singer verbirgt etwas. Erstens lastet auf ihm „eine spezielle Form von Schamgefühl“ nach einem Geschehnis in seiner Kindheit, das ihn immer noch quält. Außerdem ist er 34 Jahre alt und hat soeben seine Bibliothekar-Ausbildung abgeschlossen. Was hat er in all den Jahren zwischen 20 und 30 gemacht?

„In der Bibliothek tauchte Singer bald in seine Arbeit ab, so wie er es erwartet und worauf er sich gefreut hatte. Er war schließlich nach Notodden gekommen, um inkognito zu leben. Zwar unter vollem Namen, aber die vierunddreißig Jahre verbergend, die ihm als bisher gelebtes Leben anhafteten.“

Davon wissen die Leute um ihn herum nichts. Wir Leser erfahren in der Zwischenzeit, dass er erfolglos versucht hatte, einen Roman zu schreiben. Zehn Jahre lang feilte er am ersten Satz herum, ohne weiterzukommen. Dann gab er auf und versuchte, etwas anderes zu finden, womit er sich beschäftigen konnte. Deshalb die Bibliothekar-Ausbildung. Deshalb der erstbeste Job. In Notodden. Dort beginnt er den Rest seines Lebens. Anonym, sich selbst verleugnend, versteckt und voller Scham.

Einsam, in sich gekehrt und zynisch steht er da, um dieses neue Leben zu beginnen. Zunächst läuft alles nach Plan, doch dann lernt Singer eine Frau kennen. Bald schon ziehen er und die alleinerziehenden Mutter mit deren kleinen Tochter zusammen.

Der Wendepunkt

Der Wendepunkt des Romans ist der plötzliche Tod der Frau. Ihre Tochter Isabella ist sechs Jahre alt und mutterlos, mit einem Stiefvater, der eigentlich nicht viel mit ihr anfangen kann. Doch dann will Singer, im Gegensatz zu dem, was alle erwarten, plötzlich das Sorgerecht für das Kind, statt ihre Betreuung den weitaus besser geeigneten Großeltern und den übrigen Verwandten zu überlassen.

Warum tut Singer das?

Der offensichtlichste Grund ist wohl, dass er sich trotz allem für das kleine Mädchen verantwortlich fühlt und für sie sorgen will. Doch leider ist der Grund in Wahrheit egoistischer. Denn Singer und seine Frau, die Mutter des kleinen Mädchens, wollten sich trennen. Niemand wusste davon, aber sie waren dabei, die Scheidung einzureichen, als sie starb. Singer will nicht, dass sein Umfeld davon erfährt. Deshalb übernimmt er die Verpflichtung, sich um das Kind seiner verstorbenen Frau zu kümmern.

„Die Leute sterben nicht in meinen Büchern“

Solstad hat einmal gesagt, dass seine Autorenlaufbahn 1999 mit T. Singer endete, obwohl er danach noch einige weitere Bücher geschrieben hat.

In dem Buch Ungeschriebene Memoiren (norw. Uskrevne memoarer), berichtet Dag Solstad bei einem Gespräch mit Alf van der Hagen, dass er zum ersten Mal literarische Tricks wie einen Autounfall angewandt hat, um eine Person verschwinden zu lassen.

„Die Leute sterben nicht in meinen Büchern“, sagt Solstad. „Nicht einmal im Krieg.“

Doch hier tut Singers Frau genau das und der Todesfall stellt das Leben des beschämten Bibliothekars im Exil auf den Kopf.

Traurig, aber mit Humor

Es ist ein etwas trauriges Buch, über ein etwas trauriges Leben, doch wie immer bei Dag Solstad steckt es auch voller Humor. Und wir erhalten Einblicke in die merkwürdigsten Dinge: Unter anderem beschreibt der Autor das klassische Hammerwerfen, eine Leichtathletikdisziplin für ein ganz spezielles Publikum. Die Würfe müssen ausgeführt werden, bevor die Zuschauer zum Wettkampf erscheinen, denn der verirrte Hammer kann dem, der von ihm getroffen wird, schlimme Verletzungen zufügen.

Es gibt auch ein paar köstliche Szenen, zum Beispiel, wenn Singer sich an seinem ersten Abend in der neuen Stadt ausgerechnet mit dem Industriemagnaten Adam Eyde betrinkt, der Singer mit teurem Champagner, Wein und Schnaps und exquisitem Essen abfüllt und ihm sein Tippsystem verrät, das garantiert Gewinne erzielt. Das System kommt übrigens zum Einsatz, als Singer von Notodden nach Oslo zieht und eine Wohnung kaufen muss.

Und so geht das Leben seinen Gang. Isabella wächst heran und Singer gliedert sich in die anonymen Reihen der Osloer Bürger ein. Bald ist die Mission erfüllt, und der anonyme Bibliothekar auf dem eine spezielle Form von Schamgefühl lastet, schlendert weiter …

Preisgekrönter Autor

Dag Solstad (*1941) ist einer der anerkanntesten norwegischen Autoren, mit einer beachtlichen Reihe von Büchern verschiedener Genres. Unter anderem hat er in Zusammenarbeit mit Jon Michelet fünf Bücher über die Fußball-WM geschrieben. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

1989 erhielt er den Literaturpreis des Nordischen Rates für Roman 1987. Für T. Singer erhielt er 1999 den angesehenen Norwegischen Kritikerpreis.

T. Singer wurde in 33 Sprachen übersetzt.

Aus dem Norwegischen von Inge Wehrmann.

Weitere Informationen zum Buch

finden Sie auf der Webseite des Dörlemann Verlags.

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