Eine Bibliothek nach den Träumen von Kindern

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Geschrieben von Nora Steenberg, Vebjørn Rogne

„Wir haben die Kinder nicht gefragt, wie eine Bibliothek nach ihren Wünschen aussehen sollte. Wir haben lieber gefragt, wie ihre Träume aussehen“, sagt Reinert Mithassel.

"Biblo Tøyen" in Oslo, Foto: Marco Heyda

An einem eiskalten Osloer Morgen treffen wir uns in der Biblo-Tøyen-Bibliothek mit dem Bibliotheksleiter Reinert Mithassel. Wir mussten uns frühmorgens verabreden, denn während der Öffnungszeiten dürfen weder Journalisten noch andere Erwachsene die Bibliothek betreten. Eine strikte Regel, die sogar eingehalten wurde, als das norwegische Kronprinzenpaar zu Besuch kam.

„Wenn Erwachsene anwesend sind, wird die Energie merklich verändert. Sie besetzen den Raum mit ihren Vorstellungen. Zum Beispiel, dass es in einer Bibliothek still sein muss“, berichtet Mithassel, während er seine Schuhe auszieht.

Im Eingangsbeireich verkünden Großbuchstaben auf dem Fußboden den Beginn einer schuh- und erwachsenenfreie Zone.

„Wir orientierten uns an einem ähnlichen Projekt in Schweden und den dortigen Benutzern. Die Kinder werden zu Hause mehr als genug von den Eltern überwacht, deren Aufmerksamkeit sie mit kleineren Geschwistern teilen müssen. Hier drinnen können sie einfach sie selbst sein“, erzählt Mithassel, räumt jedoch ein, dass einige wenige Erwachsene auch während der Öffnungszeiten Zutritt haben: um bei der Hausaufgabenbetreuung und diversen Workshops mitzuhelfen. Und natürlich die Angestellten.

„Das Wichtigste in dieser Bibliothek sind die Angestellten und ihr guter Umgang mit den Kindern. Sie wissen die Namen aller jungen LeserInnen, und die Kinder kennen sie sehr gut. Die Angestellten respektieren sie und ihre Träume.“

Foto: Marco Heyda

Bibliothek des Jahres

Ein paar Schritte hinter dem Eingang stellt sich das Gefühl ein, ein alternatives Universum zu betreten. Ein rosa Lieferwagen, Skiliftgondeln, zu Stühlen umfunktionierte Schubkarren, alte Telefonhäuschen, ein Glastunnel... um nur einige Ausstattungselemente zu nennen, die in der Biblo-Tøyen-Bibliothek die Sinne anregen.

Biblo Tøyen ist vielleicht die einzige „kinder-bestimmte“ Kinderbuchbibliothek in Norwegen und eine der wenigen auf der ganzen Welt. Kinder haben in der Regel ihre ausgewiesenen Plätze in den Kinderabteilungen oder den Schulbibliotheken.

„Die Kinderabteilung in den Bibliotheken ist in der Regel ein Kreis aus zehn bunten Kunstlederkissen mit Büchern drum herum. Das reicht nicht. Wir wollen mehr,“ sagt Mithassel

Die Biblo-Tøyen-Bibliothek hat eine gute Lage mitten auf dem Tøyen-Torg im Osloer Osten. Über der Tür hängt ein Schild: „Bibliothek des Jahres“, eine Auszeichnung, mit der sie 2017 geehrt wurde. Im letzten Jahr erhielt sie auch den Golden Book Award für ihren Beitrag zur Literaturvermittlung in Norwegen. Dies sind nur zwei der zahlreichen internationalen Preise, mit denen Biblo Tøyen ausgezeichnet wurde oder für die sie nominiert wurde.

Mithassel freut sich besonders darüber, dass es gerade die Kinder aus Tøyen sind, einem Osloer Stadtteil mit großem Migrationsanteil, die davon profitieren, die „Bibliothek des Jahres“ in ihrer Nachbarschaft zu haben:

„Von allen Osloer Kindern haben die, die hier leben, den schwierigsten Start ins Leben. Viele leben unterhalb der Armutsgrenze und bekommen wenige positive Anregungen.“

Biblo Tøyen nimmt die Kinder und Jugendlichen ernst, und vor allem die Übergangszeit, in der sie sich zwischen zehn und fünfzehn befinden. Mithassel betont, dass es wichtig ist ihnen zu helfen, sich selbst und andere unter ihren Bedingungen kennenzulernen:

„Es ist wichtig, dass nicht nur begabte Schüler davon profitieren. Wir müssen das Selbstvertrauen aller Kinder unabhängig von Leistungen in der Schule aufbauen.

Foto: Marco Heyda

Für Kinder, von Kindern

„Die Bibliotheken in allen Ländern der Welt unterscheiden sich kaum voneinander. Es ist ein vorgefertigtes Konzept. Es ist merkwürdig und erstaunlich, wie sehr sie einander ähneln“, erklärt Mithassel.

„Bei der Gestaltung der Bibliothek haben wir dreißig Kinder aus Tøyen eingeladen. Wir haben die Kinder nicht gefragt, wie eine Bibliothek nach ihren Wünschen aussehen sollte. Wir fragten lieber, wie ihre Träume aussehen und was sie glücklich macht.“

Und damit nicht genug: Biblo Tøyen zog auch einen Architekturpsychologen (ja, so etwas gibt es) zu Rate. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse lieferten wichtige Leitfäden für den besonderen Charakter der Bibliothek:

„Er erzählte uns unter anderem, dass Kinder gern dicht nebeneinander sitzen. Sie wollen den Überblick haben und sich gleichzeitig verstecken. Sie wollen sehen und gesehen werden, aber nicht überwacht werden. Das war überraschend, denn das ist ja das genaue Gegenteil von dem, was Erwachsene sich unter einem Freiraum vorstellen würden“, berichtet Mithassel und weist darauf hin, dass zum Beispiel die Skiliftgondeln der Bibliothek alle Anforderungen der Jugendlichen erfüllen.

Foto: Marco Heyda

Nicht nur Bücher, Bücher, Bücher

„In der Biblo-Tøyen-Bibliothek konzentrieren wir uns auf die anderen Begabungen der Menschen. Mehr Lehrstoff aus dem sozialen Leben und Alltag. Das ist gemeinnütziger, anregender und kreativer. Aus diesem Grund haben wir ein andersartiges, alternatives Universum geschaffen, das andere Bereiche stimuliert“, erklärt Mithassel. „Die Kinder kommen hierher, obwohl es eine Bibliothek ist, und wir lassen sie aus ihren eigenen Beweggründen herkommen. Die meisten können nicht gut lesen, deshalb werden wir sie nicht gleich mit Ibsens Büchern erschlagen, wenn sie zum ersten Mal herkommen. Wir müssen ihnen zuerst etwas anderes anbieten.“

„Es ähnelt der Reihenfolge, nach der die Heilsarmee etwas anbietet: ‚Suppe, Seife, Erlösung‘. Es ist nicht ‚Erlösung, Erlösung, Erlösung‘ – stattdessen wird als Erstes ein einladenderes Angebot gemacht. So müssen wir auch denken, und deshalb beginnen wir mit dem Freiraum. Dann können wir nach und nach mit den Büchern kommen. Wir müssen einfach clever sein.“

Das Interesse an der Biblo-Tøyen-Bibliothek war nicht nur in Norwegen sehr groß. Auch im Ausland hält man Ausschau nach diesem speziellen Bibliotheksprojekt.

„Wir hatten Besuche von Delegationen aus vielen Ländern, die hoffentlich ein bisschen Inspiration mitgenommen haben.“

Ein Projekt wie Biblo Tøyen kostet natürlich Geld, aber Mithassel behauptet, dass es sich nicht nur um Finanzmittel dreht.

„Es ist klar, dass es Geld kostet, und nicht alle können es im selben Umfang durchführen. Aber im Grunde geht es mehr um die Einstellung, als ums Geld. Wenn der Wille da ist, kommen Projekte in Gang.” Und Bibliotheken entstehen, wie sie Kinder erträumen.

Aus dem Norwegischen von Inge Wehrmann

Kinder- und Jugendliteratur