Während andere Nationen darüber reden, dass Leser ihre Bücher finden, ist es bei samischen Werken oft so, dass Bücher ihre Leser finden. Lange Zeit war es für die samische Literatur die wichtigste Aufgabe, eine Sprachkultur zu entwickeln, in der schriftliche Werke wertgeschätzt werden.
Die samische Definition von Literatur
Im Samischen gibt es eine weiter gefasste Definition von Literatur als beispielsweise im Norwegischen oder Englischen. Die nordsamische Bezeichnung für Literatur lautet girjjálašvuohta, was von dem Wort girji stammt: etwas, das eine bestimmte Form hat oder etwas, das geschrieben ist (wie ein Brief oder ein Buch). Dies schafft einen weitaus größeren Rahmen für eine offene Definition dessen, was samische Literatur beinhalten und umfassen kann. Vor diesem Hintergrund scheint es recht natürlich, dass sowohl Joiks (Vokalmusik samischer Gesänge) als auch Geschichten als Beispiele samischer Literatur gelten. Vielleicht ist es an der Zeit, einige Gattungsgrenzen und die dadurch entstehenden Einschränkungen für die samische Literatur zu überwinden. Man sollte samische Bezeichnungen als Grundlage einer samischen Literaturdefinition verwenden und samische Ausdrucksformen nicht in starre literarische Konzepte pressen, deren Ursprünge vollkommen anders sind als die kulturellen Zusammenhänge, aus denen die samischen literarischen Traditionen entstanden sind. Dieser Ansatz entspricht den neuesten Tendenzen in der Forschung und Bildung indigener Völker, deren Selbstverständnis sich derzeit wandelt und von der kolonialen Sichtweise abkehrt, bei der alles an den Maßstäben der Mehrheitsgesellschaft und der westlichen Kultur gemessen wurde.
Im internationalen Vergleich mit der Situation anderer indigener Völker nimmt die samische Literatur eine Sonderstellung ein. Der größte Teil in eigener Sprache verfasster Literatur der indigenen Völker stammt aus Sápmi (das Siedlungsgebiet der samischen Völker in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland) und aus Grönland. Dies liegt natürlich an der relativ guten staatlichen Unterstützung und an dem bewussten sprachpolitischen Engagement der samischen Kulturinstitutionen und der norwegischen und dänischen Behörden. In anderen Ländern regiert der Markt, was dazu führt, dass indigene Autoren nur dann eine Chance haben, Texte zu veröffentlichen, wenn sie in der Mehrheitssprache schreiben und publizieren. In Neuseeland, wo die Maori fast 15% der Gesamtbevölkerung ausmachen, werden einige wenige Bücher auf Maori publiziert, bei denen es sich vor allem um Kinderliteratur und Volkssagen handelt. In anderen Ländern werden Publikationen indigener Völker hauptsächlich von unterschiedlichen Wohltätigkeitsverbänden und Forschungsanstalten unterstützt. In den meisten Fällen geht es dabei um volkskundliche Stoffe.
Das Wiedererwachen samischer Kulturtätigkeit seit den 1970er-Jahren
Die Revitalisierung der samischen Literatur in den 1970er-Jahren wurde beeinflusst durch den internationalen Trend Ende der 1960er-Jahre, als sich unterdrückte Volksgruppen mit neu erwachter Würde zu Wort meldeten und Gleichberechtigung mit der Mehrheitsbevölkerung forderten. Indigene Völker auf der ganzen Welt erhoben ihre Stimme und erlangten mehr Macht und Selbstbewusstsein. Der Kampf um den Alta-Kautokeino-Wasserweg Anfang der 1980er-Jahre und der Widerstand gegen Wasserkraftwerke in Nordschweden und Finnland hatten einen starken mobilisierenden Einfluss auf Kunst und Politik. Mehrere samische Künstler traten mit einer klaren ethnischen, kulturellen und politischen Botschaft in Erscheinung. Diese Mobilisierung führte auch zur allmählichen Etablierung samischer Kultur- und Bildungseinrichtungen in den drei nordischen Ländern.
Derzeit erleben wir eine neue Welle sozial engagierter Kunst und Künstler. Parallel dazu richtet sich das internationale Interesse mehr und mehr auf Dekolonisation und die Wertschätzung indigener Völker und ihrer Kultur. In den letzten Jahren erlebten wir ein Engagement, das samische Kunst (Film, Theater und Musik) als vereinenden Faktor für mehr Selbstbestimmung in den Vordergrund rückte. Was lange eine Suche nach den Wurzeln gewesen war, entwickelte sich zur gemeinsamen Botschaft der indigenen Völker, Wissen und Traditionen ihrer Kulturen zu achten, mit dem Ziel, die Menschheit zu retten. Die westliche Kultur beruht auf dem Mantra, dass die Natur bezwungen werden muss, und auf dem Versuch, alle Ressourcen auszubeuten. Die indigenen Völker standen dieser Entwicklung im Wege, und man erklärte sie zu einem Teil dessen, was unterdrückt werden musste. Gegen diese Entwicklung erheben die Künstler ihre Stimmen – und immer größere Teile der Bevölkerung schließen sich ihnen an.
Die neuen Themen, die durch die samische Kultur vor 20 bis 30 Jahren an die Öffentlichkeit gebracht wurden, haben sich in vielerlei Hinsicht auf einer rein künstlerischen Ebene fortgesetzt. Die samische Musik ist vielleicht das beste Beispiel für einen internationalen Erfolg, nicht nur als Kunstform eines indigenen Volkes, sondern auch als anerkannter Teil der Weltmusik. Der samische Film erlebte in den vergangenen Jahren eine rasante Entwicklung, mit internationalen Präsentationen und Preisen. Samische Theaterproduktionen gingen auf nationale und internationale Tourneen. Samische Kunst wird sowohl in den Heimatländern als auch im Ausland präsentiert, vor Kurzem mit sehr positiver Resonanz auf der Documenta 14 in Athen und auch 2017 in Kassel. In mancher Hinsicht hatte die Literatur einen schwierigeren Start als andere Kunstformen. Bevor sie die Welt erreichen kann, muss sie übersetzt werden, und derzeit gibt es nur wenige Übersetzer und noch weniger Förderungsprogramme für Übersetzungen aus den samischen Sprachen ins Norwegische, Schwedische und Finnische oder in die andere Sprachen.
Die Schlüsselfunktion der Sprache
Sprache ist unser wichtigstes Kommunikationsmittel. Sie verrät anderen eine Menge darüber, wer wir sind und wie wir verstanden werden wollen, sie trägt viel dazu bei, unsere Identität zu definieren, aber sie repräsentiert auch einen reichen Schatz an Wissen, Werten und Weltanschauungen. Was die samischen Sprachen angeht, interessiert man sich meist weniger für ihre Ausdrucksmittel, Idiome und Kommunikationsformen, sondern eher für die Grammatik, Syntax, Orthografie und Sprachtechnologie. Traditionelle samische Begriffe werden durch entlehnte Ausdrücke ersetzt. Dies ist ein Teil des Norwegisierungsprozesses und spiegelt gleichzeitig die generelle Entwicklung, dass mit kulturellen Veränderungen auch sprachliche Veränderungen einhergehen. Unter den Samen hat die Sprache eine immer wichtiger werdende Symbolkraft als Ausdruck der samischen Identität gewonnen. Dies liegt zum Teil daran, dass es bei den Samen nicht so viele andere Traditionen und Zeremonien gibt wie bei anderen indigenen Völkern. So haben Joik und Sprache geholfen, unseren Zusammenhalt zu stärken. Sie sind auch die Medien, die wir der Außenwelt als unsere wichtigsten kulturellen Werte präsentieren. Das erklärt in gewisser Weise die Schlüsselposition, die die Sprache bei den Samen einnimmt – etwas, das sich auch in den Bemühungen des Sámi-Parlaments spiegelt, alle samischen Sprachen der nordischen Region zu erhalten und zu fördern. Literatur und Unterrichtsmittel haben dabei in den letzten Jahrzehnten eine entscheidende Rolle gespielt.
Die Hilfsprogramme der Sámi-Parlamente zur Förderung der samischen Literatur (nach einer weiter gefassten Definition) haben im Großen und Ganzen ihr Ziel erreicht, die Publikationsrate samischer Literatur in den samischen Sprachen zu steigern. (Das Sámi-Parlament Norwegens verfügte über größere Ressourcen als die Sámi-Parlamente von Schweden und Finnland.) Mit diesem kulturellen und politischen Wagnis wollte man nicht nur die Sprache erhalten, sondern auch allen Autoren der verschiedenen geografischen Regionen und Altersgruppen helfen, ihre Werke zu veröffentlichen. Auch wenn die Unterstützung nicht immer ausschließlich auf qualitativen Bewertungen beruhte, hat sie dennoch dazu beigetragen, eine ziemlich eindrucksvolle Publikationsrate in den samischen Originalsprachen Nord-, Lule- und Südsamisch zu erreichen.
Vierhundertjahrfeier 2019
2019 ist es vierhundert Jahre her, seit die ersten Bücher in samischer Sprache erschienen. Die beiden ersten samischen Bücher, eine ABC-Fibel und ein Andachtsbuch, wurden 1619 veröffentlicht. Beide wurden in Schweden gedruckt und waren in einer Mischung aus Pite- und Südsamisch verfasst worden. 2019 ist Norwegen Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse, der größten Buchmesse der Welt, was eine Chance sein dürfte, auf die samische Literatur aufmerksam zu machen.
Bislang wurde nur ein sehr kleiner Teil der samischen Literatur in andere Sprachen übersetzt. Übersetzungen und Präsentationen samischer Literatur sind der Schlüssel, um ausländische Leser mit der Literatur vertrauter zu machen. Dies gilt auch für Übersetzungen ins Norwegische, Schwedische und Finnische, aber um den internationalen Markt zu erreichen, gilt es weiterzudenken. Es gibt großen Bedarf an Übersetzungen von samischen Klassikern, zeitgenössischer Prosa, lyrischen Werken und Sachbüchern in samischer Sprache. Die klassischen Werke verdienen es, sowohl in ihrer ursprünglichen Form als auch in bearbeiteter Fassung zu erscheinen, in der der Text in seinem kulturellen Kontext präsentiert wird und mit den notwendigen Informationen für den modernen Leser versehen ist, um das Leseerlebnis zu vertiefen – und die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft zu verbinden.
In diesem Zusammenhang freut es uns sehr, dass zwei literarische samische Werke auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse lanciert werden: eine Anthologie in samischer Originalsprache und deutscher Übersetzung mit klassischer und moderner samischer Lyrik (Vom Joik zum Rap), und eine weitere Anthologie in englischer Sprache mit samischer Prosa und Dichtung (Myths, Tales and Poetry from Four Centuries of Sami Literature).
Harald Gaski ist Professor für samische Kultur und Literatur an der UiT (Universitetet i Tromsø, Norges Arktiske Universitetet).