„Sicher, vieles war in der Zeit schlecht, über die ich in 'Spuren der Stadt' schreibe, aber ich bin fest überzeugt davon, dass wir auch viel verloren haben“, sagt Lars Saabye Christensen.
Sicher, vieles war in der Zeit schlecht, über die ich in Spuren der Stadt schreibe, aber ich bin fest überzeugt davon, dass wir auch viel Schlechtes hinter uns gelassen haben“, sagt Lars Saabye Christensen.
„Die Protokolle der Sitzungen des Roten Kreuzes, Bezirk Fagerborg, haben mich sehr fasziniert. Sie waren trocken und zeugten von lokaler Güte in einer universellen Perspektive. Ich wollte schreibend das Leben einfügen, dass zwischen den Treffen existierte“, erzählt Lars Saabye Christensen.
Letztes Jahr kam sein Roman Magnet bei seinem deutschen Verlag btb Verlag/Random house heraus, in diesem Frühjahr erschien Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval in Taschenbuchausgabe, und diesen Herbst wird das erste Buch in der oben erwähnten Trilogie Spuren der Stadt auf Deutsch veröffentlicht – alle in Übersetzung von Christel Hildebrandt.
Die alte, vertraute Gegend
Der erste Band von Spuren der Stadt führt uns jedenfalls in vertraute Gegenden, nach Hause zu Familie Kristoffersen in den Kirkeveien 127 in Oslo. In die gleiche Wohnung, in der sich vor einigen Jahren Barnum in Der Halbbruder aufhielt, und das ist eine Wohnung, die der Autor von Kindesbeinen an kennt. Es ist die Wohnung, in der seine Großeltern lebten und in der seine Mutter aufgewachsen ist.
„Ich mache nicht so gern viel Research, und indem ich mich für diese Wohnung in dieser Gegend entschieden habe, habe ich es mir selbst ein wenig einfacher gemacht. Das ist eine Gegend mit einer Sprache, die ich kenne und in der ich mich wohlfühle, und es ist wichtig, dass die Leser spüren, dass sie sich auf den Autor verlassen können“, kommentiert Saabye Christensen.
Mit einem Lächeln räumt er gleichzeitig ein, dass er natürlich dennoch auch für dieses Buch einiges hat nachforschen müssen. Unter anderem, indem er sich alte Ansichtskarten angesehen hat.
„Aber das ist eine lustbetonte Aufgabe! Ich sammle sie, das ist das einzige Hobby, das ich habe. Die Ansichtskarten bieten mir viele zeitgemäße Bilder und zeigen mir Details der Stadt, wie sie früher einmal war.“
Bedeutet Vergangenheit Nostalgie?
Gerade die Fähigkeit, das Zeitkolorit einzufangen und Stimmungen und Sprache so lebendig zu gestalten, sehen viele als Lars Saabye Christensens größte Stärke an. Es leben sowohl Wehmut als auch Dunkelheit seinem Text, und nach Meinung vieler Leser außerdem ein deutlich nostalgischer Ton. Aber genau von der letzten Behauptung ist der Autor nicht gerade begeistert:
„Nur weil man über die jüngste Geschichte schreibt, wird man schnell als nostalgisch bezeichnet. Aber dass ich über die Nachkriegsjahre schreibe, bedeutet noch nicht, dass ich mich nach ihnen zurücksehne“, stellt Lars Saabye Christensen fest, der dennoch im Fokus einer „Früher war alles besser“- Debatte gelandet ist.
„Vieles war nicht in Ordnung in der Zeit, über die ich in Spuren der Stadt schreibe, aber ich stehe dazu, dass wir auch viel verloren haben. Denn während die Rechte für Minderheiten und die ökonomischen Verhältnisse sehr viel besser bei uns geworden sind, fürchte ich, dass dieses Vertrauen, das eine Gesellschaft als einen ihrer Grundpfeiler braucht, brüchig wird. Man braucht sich nur anzusehen, wie die Terrorbedrohung unsere Umgebung rein physisch verändert. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass all die Betonklötze in den Fußgängerzonen und andere Vorsichtsmaßnahmen, die Terroraktionen erschweren sollen, eines Tages wieder entfernt werden. Sie sind errichtet worden, um zu bleiben, und mir ist schon klar, dass sie sein müssen. Aber traurig ist es trotzdem“, sagt Saabye Christensen.
Er setzt auch ein kleines Fragezeichen hinter die heutzutage oft behauptete Toleranz und meint, dass sie sich möglicherweise nur bis zu einem bestimmten Punkt erstreckt.
„Wir prahlen mit der heutigen Toleranz, müssen aber gleichzeitig mehr Mobbing und mehr Nervenzusammenbrüche registrieren als je zuvor. Da stimmt doch etwas nicht.“
Liebeserklärung
Einige Rezensenten haben Spuren der Stadt als Liebeserklärung an die Frauen der Nachkriegszeit beschrieben.
„Ja, es ist gut möglich, das Buch als so eine zu sehen. Denn es beinhaltet ja eine starke Frauenperspektive, die sonst oft nur im Schatten anderer Geschichten zu finden ist. Die Frauenrolle zu dieser Zeit war die der Treuen und Standhaften, die sich um Haus, Heim und Kinder kümmerte. Die Frauen führten ein etwas merkwürdiges, verborgenes Dasein, das für die damalige Gesellschaft grundlegend und enorm wichtig war“, antwortet Lars Saabye Christensen, der den Roman in dem Jahr beginnen lässt, in dem die Rote- Kreuz-Protokolle beginnen, die ihn zu der Romantrilogie inspiriert haben.
Protokolle, die seiner Meinung nach sowohl als ein „Türöffner“ als auch eine „Begrenzung“ für den Stoff fungieren.
„Ein paar Namen sind verändert worden, aber ansonsten sind die Protokolle sehr wahrheitsgemäß, exakt so, wie ich sie aufgefunden habe. Aber von ihnen abgesehen, ist alles im Buch reine Fiktion“, betont der Mann aus Oslo, der in einem früheren Interview erzählt hat, dass er sich nicht vorstellen könne, etwas Verletzendes über den Briefträger oder seine nächste Familie zu schreiben.
„Ich ziehe meine ethischen Grenzen dort, wo ich es für richtig halte. Es ist mein Beruf, Fiktion zu schreiben, und ich sollte in der Lage sein, das auszudrücken, was ich ausdrücken möchte, ohne anderen zu schaden“, sagt Saabye Christensen. Dennoch möchte er sich in der Debatte über die „Realitätsliteratur“ nicht abschließend festlegen, er beschreibt diese Diskussion als „schwierig und stark vereinfachend“.
„Alle Schriftsteller bedienen sich an der Wirklichkeit, und jede Fiktion ist verankert in dieser Wirklichkeit. Es nützt nichts, mit einer Art Vorsicht-Schild bei der Belletristik herumzuwedeln; was mir aber wirklich bei dieser Realitätsdebatte Sorgen macht – es ist möglich, dass sie den Blick auf den Roman verändert hat. Der ist eingeschränkt geworden, begrenzt und privatisiert, dadurch, dass alle nach autobiographischen Zügen in dem, was da geschrieben steht, suchen. Und das ist schlecht für die Literatur.“
Krebsdiagnose
Apropos Wirklichkeit, ohne zu viel von der Romanhandlung zu verraten, können wir wohl darüber sprechen, dass der Vater der Familie, Ewald, ziemlich früh in dem ersten Band die Diagnose Krebs bekommt. Die hat auch der Autor bekommen, und er selbst hat eine Chemotherapie durchgemacht.
„Aber das Krebs-Kapitel habe ich geschrieben, bevor ich selbst die Diagnose erhalten habe. Gerade deshalb ist es interessant, dass Ewalds Reaktion meiner eigenen gar nicht so unähnlich war. Dass so etwas Dramatisches auch befreiend wirken kann. Das ist ein großes Paradoxon“, sagt Lars Saabye Christensen, der nicht länger bei dem Thema Krankheit verweilen möchte, nur noch erwähnt, dass „alles gut zu gehen scheint“.
„Aber das hat einen Einfluss auf den Zeitaspekt. Alle, die über die 60 gekommen sind, spüren, dass der Horizont immer näher rückt, während die Zeit gleichzeitig immer schneller vergeht. Wenn dann so eine Diagnose hinzukommt, wird dieses Phänomen noch deutlicher, und man versucht, seine Entscheidungen noch rationaler zu treffen. Ohne dass das notwendigerweise immer so leicht ist.“
Das Buch sehen
Wobei der Schlusspunkt übrigens anspruchsvoller sei als die erste Zeile, wenn wir ihm glauben wollen. Was er damit erklärt, dass „auf der letzten Seite das Gewicht von allem Vorangegangenen liegt und schwer drückt“.
„Außerdem befindest du dich immer am Ausgangspunkt an einem ganz anderen Ort als auf der Schlussseite. In der ersten Arbeitsphase mit einem Buch verwende ich gern viel Zeit, um mir Personen auszudenken. Ich gebe ihnen den Hintergrund, den sie brauchen und platziere sie in das Milieu, in dem sie zu Hause sind. Das muss alles fertig sein, bevor ich den Rest des Universums Stein für Stein bauen kann, aber dann kommst du an einen Punkt, wo die Handlung fast von allein weiterläuft. Das entwickelt sich selbst im Laufe der Zeit“, erklärt
Saabye Christensen, der verrät, dass er jedes Mal, wenn er ein Buch schreiben will, die Augen schließt und so „das Buch sieht“.
„Die Bilder, die du siehst, das sind die Ideale, die du niemals erfüllen kannst, denen du dich im besten Fall nur so weit wie möglich annähern kannst.“
Von allen Büchern, die von ihm erschienen sind, hat ihm Yesterday (auf Norwegisch: Beatles) beim Schreiben am meisten Spaß gemacht.
„Da gab es keinerlei Erwartungen, keinen Druck, weder von mir selbst noch von anderen. Deshalb habe ich den gesamten Schreibprozess über nur ein großes Gefühl der Freiheit gespürt. Das hat einfach Spaß gemacht, die ganze Zeit lang.“
Als er Spuren der Stadt vor seinem inneren Auge gesehen hat, war ihm schnell klar, dass dieser Roman viel Platz erfordern würde. Aber nach dem 800 Seiten langen Der Magnet vor nur zwei Jahren wollte er nicht noch so ein dickes Buch schreiben. Deshalb kam ihm schnell die Idee einer Trilogie.
„Ich habe erkannt, dass sich der Stoff problemlos in drei Teile aufgliedern lässt, was mir eine größere Ellenbogenfreiheit gibt, als wenn alles in einem Band untergebracht werden müsste“, kommentiert der Autor.
Gleichzeitig bestätigt er, dass man gut und gern nur den ersten Band mit großem Gewinn lesen kann, andersherum wird es schon schwieriger, also Band zwei oder drei zu lesen, ohne Band eins gelesen zu haben. Aber die Leser und Leserinnen, die alle drei Bände lesen, begeben sich auf eine Reise durch das Nachkriegsnorwegen bis hin zur Mitte der 1970er-Jahre.
Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt.