Norwegens Stabkirchen

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Geschrieben von VisitNorway

Wer zum ersten Mal vor einer norwegischen Stabkirche steht, traut seinen Augen kaum: Die dunklen Holzbauten haben auffallend gestaffelte, steile Dächer, die Firste laufen in aufgesperrten Drachenmäulern aus. Kommt man näher, erkennt man eigenartige, heidnisch anmutende Schnitzereien, Wikingermasken, rätselhafte Symbole – diese sollen Naturgeister abwehren.

Die Stabkirche von Borgund, Foto: Øyvind Heen / visitnorway.com

Auch die hohe Stufe, die den Innenraum der Kirche vom Außenraum trennt, war ein Schutz gegen Dämonen, daher ihr Name: Geisterschwelle. Nur sehr wenig an diesen spektakulären Bauwerken lässt vermuten, dass sie vor bald eintausend Jahren als christliche Kirchen entstanden.

Ab dem 11. Jahrhundert wurden in Norwegen mindestens 750 Stabkirchen erbaut. Die Christianisierung Skandinaviens war noch nicht abgeschlossen, die stilisierten Drachenköpfe und die exotisch anmutenden Portalschnitzereien zeigen den langsamen Übergang vom Glauben der Wikinger zur christlichen Lehre. Dieses Verschmelzen von heidnischen Motiven und christlicher Kultur ist einzigartig, die kleinen Gotteshäuser bezeugen eine Zeit des Umbruchs, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte.

Holz ist seit frühesten Zeiten Skandinaviens bevorzugtes Baumaterial. Es ist reichlich vorhanden, leicht zu transportieren und kann mit bescheidenen Arbeitsgeräten wie Äxten und Beilen bearbeitet werden. Daher sind selbstverständlich auch die ersten Kirchen Holzbauten. In Norwegen bildet sich die Bauweise der sogenannten "Stavkirke" aus. „Stav“ bedeutet Stab oder Pfosten und bezieht sich auf die hochgewachsenen und geraden Kiefernstämme, die senkrecht stehend verbaut wurden und die tragenden Elemente des Baus bilden. Ursprünglich war, vom steinernen Sockel abgesehen, an einer Stabkirche ausnahmslos alles aus Holz. Sie wurden ohne einen einzigen Nagel erbaut. Immer ausgeklügeltere Konstruktionen führten dazu, dass das Holz weder verfaulte noch verwitterte.

Die meisten Stabkirchen sind im Laufe der Jahrhunderte verschwunden, viele wurden baulich so verändert, dass von ihrer Eigenart nicht viel geblieben ist. Heute stehen in Norwegen noch 28 Holzkirchen. Sie sind sehr unterschiedlich, es gibt einfache und komplexe, große und kleine, verschindelte und nicht verschindelte Bauten. Einige sind im Inneren so dunkel wie jeher, weil nur durch die ursprünglichen kleinen Öffnungen unter dem Dach Licht einfällt. Bei anderen wurden die Wände zugunsten großer Fenster durchbrochen, das macht den Innenraum zwar heller, aber es raubt ihm die geheimnisvolle, ja magische Atmosphäre einer mittelalterlichen Stabkirche.

Die Stabkirche von Borgund (bei Laerdal, Provinz Sogn og Fjordane) entstand in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Sie gilt mit ihrer Verschindelung, den gestaffelten Dächern, verzierten Giebeln und geschnitzten Portalen als die besterhaltene Stabkirche Norwegens und wird bei der Restaurierung anderer Kirchen oft als Maßstab herangezogen. Die mit Teer konservierte Kirche besteht aus rund 2.000 Einzelteilen – die Schindeln nicht mitgerechnet – und ist eines der beliebtesten Touristenziele Norwegens. 1908 entstand in Hahnenklee im Harz eine Kopie dieser Kirche, die heute noch Gemeindekirche ist.

Die Stabkirche von Lom, Foto: Arvid Høidahl

Die Stabkirche von Urnes ist die älteste noch erhaltene Stabkirche Norwegens. Sie wurde um 1130 auf einer Landzunge am Lusterfjord (ein Seitenarm des Sognefjord) erbaut. Das Portal der Kirche ist die fraglos großartigste Holzschnitzarbeit Norwegens. Die außergewöhnlichen Verzierungen sind als „Urnes-Stil“ in die Kunstgeschichte eingegangen: elegant gestreckte, ineinander verschlungene Schlangen und Hirsche, die im nordisch-mythologischen Weltenbaum Yggdrasil miteinander kämpfen. Erstaunlicherweise wurde diese Arbeit von einer Vorgängerkirche übernommen, die an derselben Stelle gestanden hatte, Archäologen datieren das Portal auf das 10. Jahrhundert. Urnes steht seit 1979 auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO.

Die größte Stabkirche steht in Heddal in der Telemark. Sie stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und wirkt mit 26 m Höhe und 20 m Länge geradezu gewaltig. Sie ist besonders stark gestaffelt, wofür es mehrere Gründe gibt. Zum einen hat Heddal, wie ursprünglich alle Stabkirchen, einen „svalgang“. In diesem Wandelgang, der die Hauptkirche umschließt, wurden vor dem Gottesdienst die Waffen abgelegt. Außerdem haben sowohl Hauptschiff als auch Chor und Apsis einen erhöhten Mittelraum mit Türmchen auf den Dächern.

Die kleinste Stabkirche ist die von Undredal (am Aurlandsfjord). In ihr finden nur vierzig Menschen Platz.

Die Stabkirchen sind einzigartig, sie sind Norwegens Beitrag zur Architekturgeschichte der Welt und stehen selbstverständlich unter dem besonderen Schutz der norwegischen Denkmalpflege.

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