Gletscher, Berge, Wasserfälle und Fjorde repräsentieren die Schönheit des klassischen Norwegens. Doch trotz Norwegens Selbstverständnis als Naturschönheit prägt den Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ein ambivalentes Verhältnis zu Umwelt und Nachhaltigkeit, so beschreibt es auch die norwegische Wissenschaftlerin und Autorin Anne Sverdrup-Thygeson.
Meiner Meinung nach hat Norwegen ein ambivalentes Verhältnis zu Umwelt und Nachhaltigkeit.
Einerseits haben wir eine Geschichte voller Engagement: Unser ehemaliger Premierminister Gro Harlem Brundtland leitete bereits in den 1970er Jahren den Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ - die Quelle des Konzepts der „nachhaltigen Nutzung“. Und Norwegen misst der internationalen Umweltzusammenarbeit nach wie vor einen hohen Stellenwert bei. Unser Minister für Klima und Umwelt, Ola Elvestuen, wurde kürzlich zum Präsidenten der Umweltversammlung der Vereinten Nationen ernannt, und Oslo 2019 zur Europäischen Umwelthauptstadt ernannt.
Andererseits fällt es Norwegen schwer, den wirtschaftlichen Nutzen unserer reichen natürlichen Ressourcen zu maximieren und gleichzeitig unsere Umweltwerte zu schützen. Fischzucht und Waldrodung sind ebenso umstritten wie unsere Offshore-Aktivitäten und deren Beitrag zum Klimawandel. Vor kurzem gab es eine heftige Debatte darüber, ob Norwegen (hauptsächlich ausländischen, auch deutschen) Unternehmen den Bau von Windenergieanlagen in Wildnisgebieten erlauben soll. Was ist am wichtigsten, die verbliebenen natürlichen Gebiete und ihre Arten zu schützen oder den Status als „grüne Batterie“ Europas zu behalten?
Wenn wir uns die 2355 Arten ansehen, die auf der norwegischen Roten Liste gefährdeter Arten aufgeführt sind, besteht kein Zweifel daran, dass die Zerstörung von Lebensräumen durch intensive Landnutzung die größte Herausforderung für die norwegische Artenvielfalt darstellt. Für 90 Prozent der bedrohten Arten ist die Landnutzung die größte Bedrohung.
Und wenn es um Arten geht, dann sind es wirklich Insekten, von denen wir hier sprechen. Wie in Deutschland und dem Rest der Welt, ist in Norwegen nahezu jede zweite bekannte Art ein Insekt. Und sie haben es in unseren modernen Agrar- oder Waldlandschaften schwer. Besonders hoch ist der Anteil bedrohter Arten unter den bestäubenden Insekten und jenen, die in toten Bäumen leben.
Aber warum sollten wir uns um den Rückgang der Insekten besorgt zeigen? Die meisten Menschen sehen Insekten als Plage und entbehrlichen Belästigung an. Aber wenn Sie das Leben so schätzen, wie wir es kennen, sollten Sie sich über die Anwesenheit unserer sechsbeinigen Gefährten freuen! Weil wir Menschen nämlich auf Insekten angewiesen sind. Wir brauchen sie zur Bestäubung, zur Zersetzung und Bodenbildung; als Nahrung für andere Tiere und als Inspirationsquelle für intelligente Lösungen. Insekten sind die kleinen Zahnräder der Natur, die die Welt bewegen.
Und genau deshalb habe ich ein Buch darüber geschrieben, ein narratives Sachbuch. Ich will zeigen, dass Insekten unverzichtbar sind, und zwar indem ich unterhaltsame Geschichten über all die lustigen und faszinierenden Insekten da draußen erzählte. Meine geheime Mission ist es, Menschen dazu zu bringen, Insekten in all ihrer Merkwürdigkeit und Schönheit zu lieben: Heuschrecken mit Ohren auf den Knien, Fliegen, die mit den Füßen schmecken, und Honigbienen, die bis vier zählen und menschliche Gesichter erkennen können!
Diese erstaunlichen Kreaturen haben uns in vielerlei Hinsicht geholfen. Beispielsweise wurden Beethovens Notenblätter und Goethes Schriften mit Eisengallustinte geschrieben. Einer Tinte, die aus kleinen Strukturen auf Eichen, die von einer winzigen Wespe hervorgerufen werden, hergestellt wird. Ein anderes Beispiel sind die schwirrenden Fruchtfliegen, die sie vielleicht aus Ihrer Küche kennen und die für nicht weniger als sechs Nobelpreise in der Medizin unverzichtbar waren. Untersuchungen haben außerdem ergeben, dass Mehlwürmer Plastik verdauen können.
Ich stelle mir die Welt gerne als eine Hängematte aus gewebtem Stoff vor: Alle Arten auf dem Planeten und ihr Leben sind Teil des Geflechts, und alle zusammen bilden die Hängematte, in der wir Menschen ruhen. Insekten sind so zahlreich, dass sie einen großen Teil des Stoffes der Hängematte ausmachen. Wenn wir Insektenpopulationen reduzieren und Insektenarten auslöschen, ist es, als würden wir Fäden aus dem Gewebe ziehen. Das mag in Ordnung sein, solange es hier und da nur ein paar kleine Löcher und lose Fäden gibt. Aber wenn wir zu viele herausziehen, wird sich die ganze Hängematte irgendwann auflösen - und damit auch unser Wohlergehen und Wohlbefinden.
Deshalb hoffe ich, dass mein Buch Libelle, Marienkäfer & Co (übersetzt von Sylvia Kall, erschienen im April 2019 im Goldmann Verlag) die Augen der Menschen für die seltsame und wunderbare Welt der Insekten öffnen kann - und zeigt, warum wir nicht ohne diese winzigen Kreaturen leben können.