Jo Nesbø im Interview über seinen neuen Roman "Messer"

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Geschrieben von Leif Gjerstad, BOK365

Harry Hole ist stets zwiespältig und kämpft mit seinen inneren Dämonen, jedoch nie so sehr wie in „Messer“, dem zwölften Buch in Jo Nesbøs Serie mit dem alkoholabhängigen Ermittler.

Jo Nesbø. Foto: Thron Ullberg

22 Jahre nach seinem Debüt mit „Der Fledermausmann“ hat der 59-jährige Norweger einen festen Platz unter den beliebtesten Kriminalautoren der Welt. Seinem Verlag zufolge liegt die internationale Verkaufszahl heute bei rund 40 Millionen, seine Bücher werden in 50 Sprachen übersetzt und seine Popularität bleibt ungebrochen. Als „Messer“ (übersetzt von Günther Frauenlob, Ullstein Verlag) im Frühjahr erschien, sprang es nicht nur in Norwegen, sondern auch in Großbritannien sofort an die Spitze der Bestsellerlisten.

Inzwischen hat es in weiteren fünf Ländern den ersten Platz und in ebenso vielen Ländern die Top Five erreicht. Auch die deutsche Übersetzung von Günther Frauenlob ist inzwischen im deutschsprachigen Raum angekommen.

Über einen Kamm geschoren

Gemeinsam mit Henning Mankell und Stieg Larsson gebührt Jo Nesbø die Ehre, das „Nordic Noir“ (auch „Scandinavian Noir“ genannt) als eigenes Genre etabliert zu haben, sei es in Buchform oder in Film und Fernsehen. Laut Wikipedia lebt dieses Genrevom Widerspruch zwischen der wohlhabenden, scheinbar friedlichen Gesellschaft der Sozialstaaten und ihrer finsteren Kehrseite mit Mord, sexueller Gewalt und Rassismus. Die Hauptfiguren sind oft Antihelden mit vielen persönlichen Problemen, die Dialoge nüchtern, und die Leser werden mit tiefgreifenden moralischen Fragen konfrontiert.

Jo Nesbø bezweifelt dies.

„Mit der Kategorie Nordic Noir wird vieles über einen Kamm geschoren, dabei ist der größte – und manchmal einzige – gemeinsame Nenner, dass wir aus Schweden, Dänemark, Island oder Norwegen kommen. Mein Vater war in den USA aufgewachsen. In unserem Haus in Molde standen immer viele amerikanische Bücher in den Regalen, was mich ebenso beeinflusst hat. Die amerikanische Literatur hat mich als Autor mindestens gleich viel inspiriert, wie die skandinavische“, kommentiert Nesbø.

Trotzdem räumt er ein, dass er mit einem Bein fest in der norwegischen Tradition steht. Das Schreiben ist für ihn eine Art Reaktion auf das Lesen. „Als Schriftsteller oder Musiker landet alles, was man liest oder hört, irgendwann in Zeilen oder Rillen. Man wird wie ein Kalkstein. Man saugt alles auf und filtert es stückweise wieder heraus“, sagt Nesbø, worauf er kurz einhält. „Habe ich Rillen gesagt, wie auf einer Vinylplatte? Da sehen Sie, wie alt ich bin!“

Von der Popgruppe zum Krimi

Der Hinweis auf die Schallplatte liegt nahe, da Jo Nesbø vor seinem schriftstellerischen Debüt ein bekannter Popstar in Norwegen war. Das Album Jenter og sånn seiner Band „Di Derre“ war die meistverkaufte Platte des Jahres 1994. Als Nesbø Lust bekam, sich als

Schriftsteller zu versuchen, war die Gruppe immer noch so erfolgreich, dass er das Manuskript zu „Der Fledermausmann“ unter dem Pseudonym Kim Erik Lokker an den norwegischen Aschehoug Verlag schickte. „Das Pseudonym fungierte als eine Art Sicherheitsnetz. Ich wollte sichergehen, dass mein Manuskript nach den üblichen literarischen Kriterien beurteilt wird und keiner es mit meinem Namen verbindet“, sagte Nesbø im Herbst 1997, kurz bevor der Roman herauskam. Wie wir wissen, erschien er unter seinem echtem Namen und wurde ein großer Erfolg sowie der Beginn eines Märchens.

Nesbø ist überzeugt, dass die Erfahrung als Texter einer Popgruppe ein Plus für seine schriftstellerische Laufbahn war. „Traditionelle Popsongs haben ein knappe Form, mit Versen und Refrain. Man begnügt sich mit Andeutungen und überlässt alles andere der Fantasie der Zuhörer. Man gibt ihnen einen Hinweis und geht davon aus, dass sie intelligent genug sind, um den Rest zu ergänzen. So ähnlich ist es auch, wenn man Krimis schreibt. Vieles überlässt man dem Leser.“

Das Plot-Talent

Kritiker bescheinigen Jo Nesbø das Talent, raffinierte Stolperdrähte in seine Plots einzubauen. Er selbst bezeichnet es als Aufgabe eines Krimiautors, die Leser zu manipulieren, indem er immer wieder falsche Erwartungen aufbaut. „Die Lösung eines Kriminalfalls entspricht dem Timing eines Sketchs. Die Pointe kommt Sekundenbruchteile, ehe das Publikum sie begreift. Sie muss überraschend, aber auch einleuchtend sein. Kein verwundertes what?, sondern ein schallendes of course! Um das hinzubekommen, muss zuerst der Plot stehen. Haben Sie eine spezielle Methode, um aus vagen Ideen fertige Kriminalgeschichten zu machen?

„Eigentlich nicht. In der Regel kommen die Ideen von selbst. Dann muss ich sie nur ergreifen, aber nicht unreflektiert. Nicht jede Idee ist so gut, wie sie auf den ersten Blick scheint. Man muss sie kritisch abwägen und einige Runden vorausdenken, ehe man weiterschreibt.“ In „Messer“ steckt Harry Hole in einer tieferen Lebenskrise als je zuvor. Seine geliebte Rachel hat ihn hinausgeworfen, und in seinem Schmerz verfällt er erneut dem Alkohol. Doch fragt man nach Harry Holes weiterem Schicksal, lächelt Jo Nesbø nur.

„Ich habe eine Storyline für Harry Hole, und zwar schon seit dem dritten Buch, ‚Rotkehlchen‘. Aber innerhalb dieses Rahmens habe ich großen Spielraum.“

Gewalt als literarisches Mittel

Obwohl Jo Nesbø Millionen Fans hat, wurde er auch für die explizite Gewaltschilderung in einigen seiner Bücher kritisiert. In „Messer“ steht die Gewalt deutlich weniger im Vordergrund, doch der Verfasser bestreitet entschieden, dass dies eine selbstkritische Abrechnung mit etwaiger Gewaltverherrlichung in früheren Bänden sei.

„Ich bestehe weiterhin auf meinem Recht, Gewalt als literarisches Effektmittel einzusetzen! Dass in ‚Messer‘ weniger Gewalt vorkommt, liegt einzig daran, dass die Geschichte an sich weniger Gewalt benötigt als andere Harry Hole-Bücher. Sie konzentriert sich mehr auf Hole selbst als auf das Böse und dessen Bekämpfung. Es ist eine andere Art von Geschichte“, erklärt Nesbø, der im Übrigen findet, dass man Krimis durchaus als Bücher gegen Gewalt verstehen kann. „Als Wirkmittel erzeugt Gewalt das Gefühl, dass etwas Entscheidendes auf dem Spiel steht. Krimis schildern Dinge, die fast alle Menschen als unangenehm empfinden, und doch fasziniert uns die Gewalt in dem Genre“, sagt Nesbø.

Er betont auch, dass es noch nie so wenig Gewalt in der Welt gegeben hat wie heute, auch wenn der tägliche Nachrichtenfluss in der modernen Informationsgesellschaft das Gegenteil suggeriert. In der Fiktion hingegen ist die Gewaltrate angestiegen. „In Krimis hat die Gewalt eine eigene Ästhetik, die wenig mit der wirklichen Gewalt zu tun hat“, meint der Autor, der im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse auftritt. „Ich erinnere mich nicht mehr an die Details, aber ich weiß, dass es anderthalb Tage mit sehr dichtem Programm werden.“ Nesbø lächelt und erzählt, dass er Frankfurt auf dem Heimweg von einer Klettertour in Griechenland „mitnehmen“ wird.

„Klettern bedeutet Entspannung und Herausforderung zugleich. Du schaust die Felswand hinauf und fragst dich, ob du es schaffst, sie zu besteigen. So etwas findest du nur heraus, wenn du es versuchst!“

Aus dem Norwegischen von Frank Zuber.

AutorenKriminalliteratur