Der norwegische Holocaust

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Geschrieben von Nora Steenberg, BOK365

„Ein bekannter Historiker sagte zu mir: Wenn du dich damit beschäftigen willst, musst du im Dreck wühlen. Und wenn du dich tief in den Dreck eingegraben hast, lässt dich das Thema nicht mehr los“, erklärt Historiker und Autor Bjarte Bruland.

Bjarte Bruland, Foto: Edvard Thorup

„Trotz der unglaublich kleinen jüdischen Minderheit im Land, ist Norwegen ein gutes Beispiel dafür, wie weit die Nazis gingen, um das „Judenproblem“ zu lösen. Wenn man zwei Juden aus Finnmark abholt, dem nördlichsten Bezirk Norwegens, eine knapp zweiwöchige Reise von Oslo entfernt, um sie aus dem Land deportieren zu lassen, sagt das eine Menge darüber, mit welcher Gewissenhaftigkeit der Plan umgesetzt wurde.“

Die Vernichtung der norwegischen Juden ist ein Thema, das man viele Jahre lang mit Stillschweigen übergangen hat. Doch in den letzten Jahren wurde das Schicksal der norwegischen Juden weiter ans Licht geholt. Wenige andere haben einen so guten Überblick über die norwegische Judenvertreibung wie der Historiker Bjarte Bruland, der sein Wissen in seinem umfangreichen Werk Holocaust in Norwegen zusammenfasste, das in der deutschen Übersetzung von Jochen Pöhland auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt wird.

„Ich wollte zeigen, wie die Übergriffe bei der Registrierung, Deportation und Enteignung der norwegischen Juden rein technisch vonstattengingen. Es war ein Wendepunkt der Geschichte, als Hitler im Herbst 1941 den Beschluss fasste, alle europäischen Juden zu vernichten – ein grausamer Wendepunkt. Ziel meines Buches ist es, die Folgen in ihrem gesamten Ausmaß zu protokollieren.“

Tief im Dreck

„Ich brauchte 25 Jahre für Holocaust in Norwegen. Natürlich habe ich in dieser Zeit auch an anderen Dingen gearbeitet, aber ich behielt das Buchprojekt immer im Auge. Ein bekannter Historiker warnte mich: ‚Wenn du dich damit beschäftigen willst, musst du im Dreck wühlen. Und wenn du dich tief in den Dreck eingegraben hast, lässt dich das Thema nicht mehr los.‘ Ich wollte so gut wie möglich aufklären, was geschehen war.“

Es war im Winter 1987, als Brulands Interesse für den Holocaust erstmals geweckt wurde – durch Claude Lanzmanns Dokumentarfilm Shoah von 1985. Obwohl Bruland nur den zweiten Teil des neunstündigen Films im Fernsehen gesehen hatte, war seine Neugier geweckt. Diese Neugier führte einige Jahre später zu einer Examensarbeit zu diesem Thema. Bruland wurde Mitglied der Kommission, die untersuchte, was während des Zweiten Weltkriegs mit dem Eigentum der Juden geschehen war. 2007 wurde er fachlicher Leiter des Jüdischen Museums in Oslo.

Die ganze Zeit hatte er dieses Buch im Hinterkopf.

„Das Buch lag lange Zeit als Plan in der Schublade. Es ist schwierig, so ein Buch zu schreiben, weil es mit großer Hochachtung vor jenen geschrieben werden muss, die von all dem betroffen waren. Ich wollte nicht über Menschen schreiben, ohne genau zu wissen, was mit ihnen geschehen war. Ich sehe das Buch als Monografie, in der es um eine Gruppe von Menschen geht, über die bislang vielleicht noch keiner etwas geschrieben hat.“

"Holcaust in Norwegen" übersetzt von Jochen Pöhlandt erschien im März 2019 im Vandenhoeck & Ruprecht Verlag.

Norwegen im europäischen Kontext

„Die Deutschen sind viel weiter, bei der Erforschung der Frage, wie der Holocaust sich entwickelt hat. Sie haben ein ganz anderes Verständnis von dem, was geschehen ist, als die Norweger und haben viel gründlicher untersucht, wer die Täter waren“, sagt Bruland, der beklagt, dass die Norweger sich nicht in ähnlicher Weise mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben.

„Der Holocaust war in Norwegen eigentlich nie wirklich als Forschungsthema anerkannt. Es war für Historiker grob gesagt einfacher, den Nationalsozialismus ohne den Antisemitismus zu betrachten, weil der Antisemitismus als irrational angesehen wurde. Aber für die Täter war er sehr rational, und deshalb weise ich im Buch wiederholt darauf hin, dass der Antisemitismus eine Grundeinstellung war, von der die Nazis felsenfest überzeugt waren.“

In Holocaust in Norwegen stellt Bruland die norwegische Judenvernichtung in Zusammenhang mit den Ereignissen auf dem europäischen Kontinent.

„Das Buch versucht, einen systematischen Hergang der Geschehnisse aufzuzeigen und deutlich zu machen, in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen. Die Nazis konnten sich schnell an die verschiedenen Länder anpassen, die sie besetzten. So war es auch in Norwegen. Sie versuchten, Norwegen zu nazifizieren. Es gab eine starke deutsche Präsenz, eine relativ starke Sicherheitspolizei und eine Kollaborationsregierung, die gewillt war, der Politik der Besetzer zu folgen. Es gab somit alle Voraussetzungen, um eine Judenvernichtung zu ermöglichen.“

Hätte Deutschland auch versucht, die Deportation der norwegischen Juden durchzuführen, wenn es keine Kollaborationsregierung mit der Partei Nasjonal Samling (NS) gegeben hätte?

„Die Nazis wollten nicht gern alles selbst machen, und waren deshalb auf Kollaboration angewiesen. Aber es besteht kein Zweifel, dass sie auf jeden Fall versucht hätten, die Deportation durchzuführen, auch ohne die Kollaborationsregierung. In Dänemark haben sie es ja auch versucht.“

Eins und eins macht zwei

„Ich stelle die norwegischen Akteure in dieselbe Kategorie wie die deutschen Täter, was die Deportation der norwegischen Juden angeht – weil sie eindeutig bei der Durchführung mitgearbeitet haben.“

In Zusammenhang mit der norwegischen Judenvernichtung wird unter anderem diskutiert, inwieweit Norweger an den Deportationen beteiligt waren und inwieweit sie sich darüber im Klaren waren, welches Schicksal die Juden erwartete, wenn sie außer Landes gebracht wurden. Viele glauben, dass die norwegische Polizei und die Kollaborateure lediglich deutschen Befehlen folgten, aber Bruland geht davon aus, dass sie wussten, was sie taten:

„Die norwegische NS-Führung wusste sehr gut, welchem Schicksal die Juden entgegengingen, und dass sie niemals zurückkehren würden. Ich habe das im Buch nicht ausdrücklich geschrieben, weil es keine direkten Quellenangaben dafür gibt. Das war nämlich etwas, worüber man keine unnötigen Worte verlor. Sogar auf Hitlers Berghof gab es wütende Reaktionen, wenn das Thema angesprochen wurde. Die Täter waren sich bewusst, dass sie eine moralische Grenze überschritten, die man in einem zivilisierten Land normalerweise nicht überschreitet. Doch es gibt Beweise dafür, dass die NS-Führung wusste, was an der Ostfront geschah, und sie zählten wahrscheinlich eins und eins zusammen, was die die Deportation und das Schicksal der Juden betraf. Und das Ergebnis lautete wohl in der Regel zwei.

Bruland glaubt, dass die Geschehnisse in Norwegen sich von denen im übrigen Europa nicht unterscheiden.

„Der Beschluss, die Juden aus Norwegen zu deportieren, fand im Verborgenen statt. Es gibt keine Aufzeichnungen von Diskussionen in der NS-Führung oder bei Josef Terboven, dem deutschen Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete, über die Deportation der norwegischen Juden. Das war eher etwas, das sich zwangsläufig ergab. So war es in ganz Europa. In keinem einzigen Land findet man ein Dokument, dass auf einen Beschluss oder eine Art ‚Fazit‘ verweist.“

Außer in Deutschland?

Bruland weist darauf hin, dass es Unterschiede zwischen Norwegen und Deutschland gab, wenn es um die Judenvernichtung ging:

„Es handelt sich ja um zwei verschiedene Länder. Die Deutschen waren überzeugt, dass die Juden hinter allem Schlechten und Bösen standen, aber in Norwegen war das nicht so. Natürlich gab es auch Vorurteile gegenüber Juden und in den Jahren zwischen den Kriegen florierten auch in Norwegen antijüdische Klischees. Aber die antisemitische Tradition war längst nicht so ausgeprägt wie in Deutschland, wo sie große Teile des intellektuellen Lebens durchdrungen hatte.“

Die norwegische Partei Nasjonal Samling hatte deshalb eine sehr schlechte Ausgangsposition, um eine antisemitische Politik zu etablieren.

„Antijüdische Maßnahmen führten in Norwegen zu heftigen Reaktionen. Deshalb musste die Judenpolitik verdeckt und so heimlich wie möglich vor sich gehen. Nasjonal Samling und die deutschen Besatzer sahen ein, dass die Norweger nicht begeistert von diesen Maßnahmen waren, deshalb gingen sie vorsichtig ans Werk. Doch sobald sie zugestimmt hatten, gab es kein Zurück“, erklärt Bruland, der auch darauf hinweist, dass das Resultat der norwegischen und deutschen Judenvernichtung dasselbe war.

„Beide hatten das Ziel, alle Juden zu ermorden. Doch in Deutschland begann die Verfolgung schon 1933, als die Juden von der übrigen Bevölkerung abgegrenzt wurden. Sie sollten nicht länger ein Teil des Volkskörpers sein, um es mit Nazi-Worten auszudrücken. Diese Rassentrennung kannte man nicht in Norwegen, wo das Ganze eher wie eine Blitzaktion wirkte.“

773 norwegische Juden wurden in deutsche Vernichtungslager deportiert, 532 von ihnen im November 1942 mit dem Truppentransportschiff Donau. Dass kurz davor ein Befehl aus Berlin eingegangen war, glaubt Bruland nicht:

„Ich denke, dass kein Befehl vorlag, sondern eher bestimmte Richtlinien. Unter anderem Heydrichs berüchtigter Brief vom Juli 1941 an alle Abteilungen der Sicherheitspolizei, in dem er behauptete, dass es in ihrer Verantwortung liege, eine Lösung für die Judenfrage zu finden. Dabei handele es sich um einen Plan Adolf Hitlers, und er erwarte, dass er durchgeführt werde. In den Kreisen, die die Vollzugsgewalt hatten, machte man sich daraufhin Gedanken darüber, wie das Problem zu lösen wäre. Die norwegischen Juden wurden registriert und strengeren Gesetzen unterstellt als die übrige norwegische Bevölkerung. Und der richtige Zeitpunkt, das Problem zu lösen‘, ergab sich 1942.“

Einblicke in eine jüdische Minderheit

„Als der Widerstandskampf von einem Gesinnungskampf in einen eher militärischen Kampf überging, während der Krieg gleichzeitig nicht so verlief, wie die NS-Führung es sich im Herbst 1942 gedacht hatte, drängte sich der Verdacht in den Vordergrund, dass die Juden der Grund für die Rückschläge seien. Das klingt eigentlich lächerlich, aber es war blutiger Ernst. Als die Kriegssituation sich im restlichen Europa strategisch zuspitzte, wollte man die Juden nicht länger haben. Man wollte das Problem lösen.“

Bruland glaubt, dass man viel über den Antisemitismus als Ganzes lernen kann, wenn man eine kleine nationale jüdische Minderheit genauer betrachtet:

„Selbst in einem kleinen Land mit einer kleinen jüdischen Bevölkerung, wurde die Deportation von einem Okkupationsregime durchgeführt, das ein großes Interesse daran hatte, alle Juden zu entfernen, obwohl es nur so wenige waren. Holocaust in Norwegen handelt nicht nur von den Strukturen rund um die Deportationen, sondern auch davon, wie einzelne Menschen und eine jüdische Minderheit davon getroffen wurden.

Weitere Informationen zum Buch finden Sie auf der Webseite des Vandenhoeck & Ruprecht Verlags.

Aus dem Norwegischen von Inge Wehrmann.

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